Wir sind ein Teil der Erde / Die Erde gehört uns nicht

Häuptling Seattle
Wir sind ein Teil der Erde / Die Erde gehört uns nicht

Die Ansprache des Indianer-Häuptlings Seattle, der im neunzehnten Jahrhundert lebte, ist unter verschiedenen Titeln von mehreren Verlagen herausgegeben worden. Der Stammeshäuptling sprach vor einer Regierungskommission, die seinem Volk deren Land abkaufen wollte. Die berührende Botschaft in seiner Rede hat auch heutzutage nicht an Bedeutung eingebüßt.

Es muss am Rande gesagt werden, dass die Authentizität der Ansprache nicht durch Dokumente gesichert ist. Von diversen Quellen wird zwar von der Rede des Häuptlings berichtet, doch diese soll zunächst in der Lushootseed-Stammessprache gehalten, dann via Chinook ins Englische übersetzt worden sein. Die Worte, die Häuptling Seattle zugeschrieben werden, tragen unverkennbar den Stempel der Umweltbewegung, die in den 1970er-Jahren stark aufkam.

Obwohl wir nicht sicher sein können, dass Häuptling Seattle wortwörtlich so gesprochen hat, ist dies ein sehr wertvolles Buch, das Stoff zum Nachdenken und zu Gesprächen gibt, für jung und alt!

S.K.

Häuptlings Seattles Rede
Im Jahre 1854 machte der „Große weiße Häuptling“ in Washington, der Präsident der Vereinigten Staaten, den Suquamish-Indianern ein Angebot für das von ihnen bewohnte Land und versprach ihnen ein „Reservat“. Häuptling Seattles Antwort wurde als die schönste und tiefgründigste Aussage über das Naturverständnis bezeichnet, die jemals geäußert wurde.

Seattle war im 19. Jahrhundert ein Anführer der Suquamish im Washington-Territorium. Man betrachtet seine Rede als Antwort auf Gouverneur Isaac Stevens‘ Angebot zur Übergabe oder zum Verkauf von Land der Ureinwohner an weiße Siedler. Sie beschreibt die Ehrfurcht der Ureinwohner vor dem Leben und die Achtung vor der Eingebundenheit des Menschen in die Natur.

Später wurde die Stadt Seattle im U.S.-Staat Washington nach diesem großen Indianerhäuptling benannt.

Häuptling Seattle, als verantwortlicher und weiser Führer seines Volkes, glaubte an die Heiligkeit des von seinen Vorvätern ererbten Landes und an die Gemeinschaft mit allem, was darauf lebte: die Pflanzen und Tiere der Felder, das Wild in den Wäldern, den Bergen und den Wiesen und all die Blumen und Bäume, die darauf gediehen. In schwächerer Position als die neuen Eindringlinge, war er gezwungen, eine Einigung mit ihnen zu erzielen. Aber dabei gab er ihnen wichtige Ermahnungen zu dem Land mit und dazu, wie sie es behandeln sollten. Diese Rede war somit ein kraftvolles Plädoyer für den Naturschutz, dementsprechend jedes Kind und jeder Erwachsene reagieren sollte.

Heute, nach fast anderthalb Jahrhunderten, hallt der Inhalt seiner Botschaft sogar noch stärker nach, wie sich nach den folgenden Auszügen der Rede feststellen lässt:

DIESE ERDE IST KOSTBAR

Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen – oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd. Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen?

Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig.

Jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung und jedes summende Insekt ist heilig in den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäumen aufsteigt, trägt die Erinnerung des roten Mannes.

Diese ersten Zeilen zeigen eine völlig andere Haltung seines Volkes zu materiellen Besitztümern im Kontrast zu einer Regierung, die von seinem Volk Land „kaufen“ will. Der Häuptling und sein Volk sehen die Natur und ihre Gaben in verschiedenen Erscheinungsformen als etwas, das der Mensch niemals besitzen kann – er kann sie für eine Zeit lang erhalten und nützen, treu verwalten mit Liebe und Wertschätzung. Wie aus dem Munde Häuptling Seattles vernommen, ist allein die Vorstellung, etwas wie „den Himmel und den Regen und den Wind“ zu besitzen, völlig absurd.

Kann eine auf solchen Grundlagen erbaute Zivilisation wirklich überdauern? Ich stelle diese Frage, die durch diese einleitenden Worte in der Luft zu liegen scheint.

Die Luft ist kostbar für den roten Mann, denn alle Dinge teilen denselben Atem – das Tier, der Baum, der Mensch, sie alle teilen denselben Atem. Der weiße Mann scheint die Luft, die er atmet, nicht zu bemerken. Wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank. Aber wenn wir euch unser Land verkaufen, müsst ihr in Erinnerung behalten, dass die Luft uns kostbar ist, dass die Luft ihren Geist teilt mit all dem Leben, das sie erhält. Der Wind, der unserem Großvater den ersten Atem gab und auch seinen letzten Seufzer empfängt. Und wenn wir euch unser Land verkaufen, so müsst ihr es als etwas Besonderes und Geweihtes erhalten, als einen Ort, wo auch der weiße Mann spürt, dass der Wind süß duftet von den Wiesenblumen.

Weiter sagt er:

Eines wissen wir, was der weiße Mann vielleicht eines Tages entdecken wird, unser Gott ist derselbe Gott. Ihr denkt nun vielleicht, dass ihr Ihn besitzt, so wie ihr unser Land zu besitzen trachtet;  aber das könnt ihr nicht. Er ist der Gott der Menschen, und Seine Barmherzigkeit gilt dem roten und dem weißen Mann gleichermaßen. Diese Erde ist Ihm wertvoll. Und der Erde zu schaden, heißt ihren Schöpfer zu verachten. Auch die Weißen werden vergehen; eher vielleicht als alle anderen Stämme. Verseucht euer Bett, und eines Nachts werdet ihr im eigenen Unrat ersticken. Aber in eurem Untergang werdet ihr hell strahlen, entflammt von der Kraft Gottes, der euch in dieses Land brachte und euch aus einem besonderen Grund die Herrschaft über dieses Land und den roten Mann gab. Dieses Schicksal ist uns ein Rätsel, denn wir verstehen es nicht, wenn alle Büffel geschlachtet, die wilden Pferde gezähmt, die geheimen Winkel des Waldes schwer vom Geruch vieler Menschen sind, und den Anblick vollendeter Hügel, verschandelt von sprechenden Drähten.

Wo ist das Dickicht?
Verschwunden.

Wo ist der Adler?
Fort.

Das Ende des Lebens und der Beginn des Überlebens.

Und dann, im letzten Teil seiner Ansprache, ein Aufruf, eine Warnung und Ermahnung an die Vertreter jener, die zum Kampf gekommen waren und sein Volk „besiegt“ hatten, um es in Reservate zu zwingen:

DIE ASCHE

Ihr müsst eure Kinder lehren, dass der Boden unter ihren Füßen die Asche eurer Großväter ist. Damit sie das Land achten, erzählt euren Kindern, dass die Erde reich ist an uns verwandtem Leben. Lehrt eure Kinder, was wir unsere Kinder lehrten, dass die Erde unsere Mutter ist. Was immer die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Wenn Menschen auf die Erde spucken, bespeien sie sich selbst. Dies wissen wir: Die Erde gehört dem Menschen nicht, der Mensch gehört zur Erde. Das wissen wir. Alle Dinge sind miteinander verbunden wie das Blut, das eine Familie eint. Alle Dinge sind verbunden. Was auch immer die Erde befällt, befällt die Söhne der Erde.

Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewoben: er ist nur ein Strang darin. Was immer er dem Netz antut, fügt er sich selbst zu.

DR

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Der Traum vom Wald

Ayano Imai
Der Traum vom Wald

Froh und traurig zugleich bin ich nach dem Lesen dieses Buches. Es zeigt deutlich, wie es in eine gute Richtung weitergehen könnte. Eines der zutiefst berührenden Bilderbücher, die ich bisher gefunden habe. Mit traumhaft schönen Bildern.

Für Erwachsene und Kinder ein Ansporn etwas zu ändern in unserem Verhältnis zur Natur.

R. K.

„Ein neues Bilderbuch, das zeigt wie … die kleinen Entscheidungen, die wir heute treffen, einen großen Einfluss auf die Kinder unserer Kinder haben können.“  (Verlagstext zum Buch)

Angeboten wird es für das Alter „ab 3 – 4 Jahren“. Das dürfte vor allem für die Bilder gelten, während die Tragweite des Inhalts erst von größeren Kindern begriffen werden dürfte.

Ein Buch, das auch bei Erwachsenen Sehnsucht weckt!

  G. K.

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Wasser, Wind und Wolken

Hans-Wilhelm Smolik
Wasser, Wind und Wolken

 

Mit wunderschöner Sprache und achtsamem Blick werden in diesem Buch die großen Kreisläufe und Zusammenhänge des Lebens gezeichnet, so einfach und bildhaft, dass Kinder sie mühelos begreifen und Erwachsene wieder staunen können, über die großartige Schöpfung und Ordnung und die feinen, ineinandergreifenden Kräfte in der Natur, in der wir Menschen uns allzu oft nur als egoistische Störenfriede betätigen.

Wir reisen in diesen Geschichten mit Plink, dem Wassertropfen, durch den Himmel und die Meere, durch das Erdreich, durch die Pflanzen, Tiere und Menschen, wieder hinauf in die Wolken.

Wacker, den Wackerstein, begleiten wir, wie er krachend und tosend durch eine Klamm poltert, wie er geschliffen und  gehobelt wird in der „Schleifmühle und Steinhobelbank“ des Bergbaches, der Flüsse und Ströme, bis er wendig und geschmeidig zu seinem Ursprung zurückkehrt, dem blauen Meer. Hier treffen sich, zu Sand zerrieben und mit all ihren Erfahrungen beladen, die Steine aus allen Ecken der Welt, um neue Gebirge aufzubauen, die vielleicht in Jahrmillionen wieder aus dem Wasser aufragen werden.

So erfahren wir in diesen Erzählungen, die H.W. Smolik „Das große Räderwerk Gottes“ nennt, dass es die Anderen braucht, das Zusammenwirken, und dass man in Bewegung bleiben muss, ein „Weltenwanderer“ sein, wie der Wassertropfen und der Stein, und dass die Welt schön ist:

… Aus einem Bach waren wir Wassertropfen ein Fluss und endlich ein gewaltiger Strom geworden. Und nun dauerte es auch nicht mehr lange, und wir landeten im Meer. Hier trieben wir uns lange umher und hüteten uns wohl, in die tieferen Strömungen zu geraten. Wir wollten immer weiterwandern, wollten Wolken werden!

Ja, aufsteigen wollten wir, in den Himmel hinaufklettern, die Erdenschwere überwinden und durch die Lüfte segeln! Und deshalb blieben wir schön in der obersten Meeresschicht, im sogenannten Oberflächenwasser, das von der Sonne gut durchstrahlt und erwärmt wurde. Und die Sonne meinte es auch gut, sie glühte, gleißte und strahlte, dass das Meer wie eine Riesensilberschale erglänzte.

„Mir wird schon ganz leicht und luftig zumute!“ sagte mein Freund Plitsch. „Und mir ist es, als ob ich bereits schwebe!“ rief mein Freund Platsch und strahlte über alle Backen.

Pang und Pong aber hatten bereits ihre Regentropfengestalt verloren und stiegen stracks in den Himmel empor.

O ja, die Sonne zog uns mit Macht …

1965 erschienen und nur noch mit Forschergeist antiquarisch zu erwerben, ist dies das Buch meiner Kindheit. Ich erinnere mich noch gut, wie ich zuhörend auf Reisen gegangen bin, mit einem Wassertropfen und einem Stein.

Ab 7 Jahren

BPH

Sehr lehrreich, da der Leser ständig mitfühlt und mitfiebert, was ein einzelner Wassertropfen erlebt.
An wenigen Stellen ist es zu „vermenschlicht“ dargestellt, wenn zum Beispiel der Sturm „Rachepläne“ hat oder „vernichten“ möchte. Solches können vorlesende oder begleitende Eltern mit wenigen Worten richtigstellen.

Die Buchabschnitte „Mutter Feldhecke“ (siehe unten) oder „Als der große Wald starb“ sind Warnungen, wie der Mensch die Natur zerstört.

R.K.

Vom gleichen Autor: „Näpfli – das rote Blutkörperchen“

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Mutter Feldhecke

Ich, der Wassertropfen Plink, will euch von meinem Leben und meinen Abenteuern erzählen. Und wenn ihr mich fragt, wieso ich dazu komme, dann muss ich euch ganz ehrlich sagen: weil ihr eigentlich kaum etwas von der Natur wisst und begreift.

Es ist nämlich so, dass die Natur sehr wenig Spaß versteht und es überhaupt nicht vertragen kann, wenn ihr der Mensch dazwischen pfuscht. Ihr Menschen müsst da noch sehr viel lernen, müsst die Augen tüchtig aufreißen und müsst viel mehr über die verborgenen Zusammenhänge nachdenken. Genauso wie jedes Tier, hat auch jede Pflanze eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und es rächt sich bitter, wenn ihr denkt, dass ihr machen könnt, was ihr wollt. Ich habe da mancherlei erlebt, das euch nutzen könnte. Und so will ich euch jetzt die Geschichte von der Mutter Feldhecke erzählen, von einer einfachen, wild gewachsenen Hecke mitten zwischen den Feldern des flachen Landes.

Ich lernte die Feldhecke kennen, als ich an einem bitterkalten Wintertag und mit meinen Freunden Platsch und Platsch und Pang und Pong als wirbelnde Schneeflocke durch die Lüfte jagte. Der Ostwind blies uns vor sich her und jauchzte auf, als er das weite flache Kornland vor sich sah. »Da will ich mich ausrasen und über die verschneiten Fluren blasen, dass den Feldhasen und Feldhühnern das Blut in den Adern gerinnt, dass die Hamster und die Maulwürfe in der Erde zittern und die Regenwürmer blau werden! Mein ist das flache Land, mein ganz allein!« Und er nahm einen Schwung und brauste mit uns los, dass wir nur so dahin stoben.

Und wie er nun so in schönster Fahrt war und sich seiner Gewalt und Kraft freute, da rief es auf einmal : »Halt, mein Freund, hier stehe ich! Komm, mach gefälligst einen Hopser, alter Sausebruder!«

»Wer wagt es, mich aufzuhalten?« heulte der Ostwind. »Aus dem Weg, sonst blas‘ ich dich um!« »Na, dann blas‘ nur!« rief es zurück. »An mir zerschellt deine Kraft. Ich stehe fester als ein Baum, als ein ganzer Wald, ich, die alte Feldhecke!«

»Das wollen wir doch erst einmal sehen!« wütete der Ostwind. Er nahm einen Anlauf, er raste los, er kam wie ein Untier angesprungen.

Aber die Feldhecke stand. Die unzähligen Zweige der Heckenrosen, der Weißdornbüsche, der Haselsträucher und Schlehen hatten sich so fest und unentwirrbar ineinander verschränkt und waren außerdem noch durch die Ranken des Hopfens, der Zaunrübe und der Waldrebe verbunden, dass ihnen keine Windsbraut etwas anhaben konnte. Die Feldhecke stand wie eine Mauer. Sie war nicht umzuwerfen und nicht zu entwurzeln. Der Ostwind musste sie überspringen, es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Und mit ihr übersprang er auch die Hasen und die Rebhühner, die sich unter die Hecke geduckt hatten und dort warm und wohl geborgen lagen. Er übersprang zugleich auch die schlafenden Igel und Schlangen, Mäuse und Kröten, die alljährlich im Herbst bei der Hecke einkehrten und sich unter ihr in die Erde gruben. Und er übersprang die unter dem zusammen gewehten Falllaub träumenden Schmetterlinge und Käfer, die Hummel- und Wespenweibchen, die Grillen und Spinnen.

Wie eine gute Mutter, wie eine Glucke ihre Küken, hütete die Feldhecke das Leben der Tiere, die sich unter ihren Schutz begeben hatten. Auf sie war Verlass. Unerschütterlich stand sie in allen Stürmen und hatte für die hungernden Vögel noch manche Beere, manche erstarrte Raupe, manches Schmetterlingsei und manche Schnecke in ihrem Schoß.Und was wäre wohl aus den Hasen und den Rebhühnern in der tief verschneiten Flur geworden, wenn nicht Mutter Feldhecke in ihrem Rücken schneefreie Flecken für sie gehabt und ihnen dazu noch manches Zweiglein und manche Knospe geopfert hätte? Kein notleidendes Tier sprach vergebens bei ihr vor. Jedes Tier fand einen warmen Unterschlupf, ein sicheres Versteck oder einen wärmenden Happen. Selbst die Wintersaat auf dem hinter ihr liegenden Feld hatte der Hecke ihr Leben zu verdanken. Denn die Hecke war es, die die zarten Keimblättchen vor den kalten Winden bewahrte, bevor wir Wassertropfen sie in unseren warmen Schneemantel hüllten. Gutmütig schmunzelte die alte Feldhecke hinter dem wütend davon brausenden Ostwind her.

»Na also!« murmelte sie.

Und genau so gutmütig nahm sie auch uns Schneeflocken an ihre breite Brust, obwohl wir ihr vorläufig noch keinen Dank dafür wussten und eigentlich einen kleinen Groll auf sie hegten. Denn die Fahrt mit dem Ostwind war doch zu schön gewesen und jetzt fürchteten wir uns vor der Langeweile.

Nun, es erwies sich, dass es durchaus nicht langweilig bei der Feldhecke war. Besonders im Frühjahr nicht, als wir getaut waren und tief in ihrem Schatten lagen, als die Bienen und Hummeln ihre blühenden Schlehen- und Weißdornbüsche umschwirrten, als die Schmetterlinge die ersten Veilchen zu ihren Füßen besuchten und die von weiter Reise zurückgekehrten Grasmücken, Neuntöter und Rotschwänzchen nach ihren alten Brutplätzen schauten. Und wie sich die alte Mutter Feldhecke freute, dass alle wieder zu ihr zurückkamen, dass keines der Tiere sie vergessen hatte! Aber wo wären wohl auch die Nester der Vögel und ihre Eier und Jungen besser aufgehoben gewesen? Wo hätten die gefiederten Sänger so reiche Kost an Fliegen und Spinnen, Raupen und Würmern, Käfern und Heuschrecken gefunden? Und was sie bei Mutter Feldhecke nicht fanden, das brauchten sie nur von den benachbarten Feldern aufzulesen. Ja, und wo hätten sich die Kröten und Igel, Eidechsen und Blindschleichen geborgener fühlen können, als unter dem stacheligen und dornigen Verhau ihrer Zweige?

Die Tiere wussten schon, was sie an der alten und mächtigen Feldhecke hatten. Sie wussten es genau, ganz gleich, ob sie bei ihr wohnten oder sie nur besuchten, ob sie winzige Blattläuse oder stattliche Käfer, zierliche Motten oder dicke Hummeln waren.

Bei ihr fanden die Ameise und der Marienkäfer die begehrten Blattläuse, die Gallwespen ihre Kinderwiegen, die Blumenkäfer den besten Blütenwein, die Blattschneiderbienen die Tapeten für ihre Honigzellen, die Laubheuschrecken zarten Blattsalat, die Schnecken den geliebten Schatten und die Blattwanzen köstlichen Pflanzensaft. Bei ihr wurden die Spinnen aller Arten und Familien dick und fett, denn sie fing ja alles auf, was der Wind vorüber wehte. Und bei ihr konnte sich wieder der Zaunkönig an Spinnen mästen.

»Ach, jetzt ist mir wieder richtig wohl!« seufzte Mutter Feldhecke im Sommer aus tiefstem und glücklichem Herzen. » Jetzt summt und brummt, singt und klingt, jubiliert und tiriliert es in mir vom frühen Morgen bis zum späten Abend und selbst noch die Nacht hindurch. Jetzt kribbelt und krabbelt, zippelt und zappelt, schlüpft und flattert es in meinen Zweigen, dass es eine Lust ist. Jetzt blühen meine Heckenrosen, klettern die Zaunwinden, rankt sich der Hopfen, dass man vor lauter Blüten und Blättern nicht mehr in mich hineinsehen kann!« Und sie hielt die Kinder des Bauern, die an ihr vorübergingen, mit ihren stachligen Zweigen fest und sagte: »Schaut nur mal unter mich! Seht ihr nicht, wie meine Brombeeren in diesem Jahre blühen? Und wie wunderbar die Haselbüsche wieder angesetzt haben? Das gibt Nüsse! Und für den Vater habe ich im Herbst wieder eine Masse Schlehen zum Schnaps und für die Großmutter die heilkräftigen Hagebutten!«

Aber die Kinder des Bauern sahen nur die Risse in ihren Kleidern und dachten daran, was der Vater gesagt hatte.

»Die alte Hecke muss endlich auch verschwinden! Sie schmälert mir das Feld und wirft zu viel Schatten. Das sind ja ein paar hundert Quadratmeter gutes Land, die ich gewinnen kann, wenn ich das Stachelding niederbrenne.«

Der Bauer hielt Wort. Gleich nach der Ernte ging er mit Axt, Säge und Feuer der Hecke zu Leibe. Ohne daran zu denken, dass er unzähligen Tieren die Heimat nahm, vernichtete er in wenigen Tagen, was über hundert Jahre lang gewachsen war. Er hatte vergessen, wie viel Holz die Hecke ihm und seinen Vorfahren schenkte, wie viele Beeren und Nüsse sie alljährlich gab. Er dachte auch nicht daran, dass seine Bienen in der Hecke eine unerschöpfliche Honigquelle gefunden hatten und dass er seinem Weidevieh den Schatten nahm.

Die Hecke wehrte sich mit Dornen und Stacheln und zähen Wurzeln aus Leibeskräften. »Du wirst es bereuen, Bauer!« rief sie bei jedem Axthieb. »Ich bin nicht zum Spaß hier gewachsen. Ich habe viele wichtige Aufgaben zu erfüllen. Es geht nicht um mich, es geht um dich und dein Feld !«

Selbst uns Wassertropfen jammerte die alte brave Hecke, obwohl wir bestimmt nicht wehleidig sind. Aber wir wussten ja, dass der Bauer einen großen Fehler beging, wussten ja, wie es um die Felder bestellt ist, die nicht von Hecken begrenzt werden.

Der Bauer jedoch hörte und verstand die Hecke nicht, und er war stärker als alle Stürme und Wetter. Er rottete sie mit Stumpf und Stiel aus und gewann wirklich einige hundert Quadratmeter guten Boden.

Aber über diesen Gewinn wurde er nicht froh. Denn die Hecke hatte sein Feld ja nicht nur vor den winterlichen Stürmen, sondern auch vor den kühlen Nachtwinden bewahrt. Sie hatte unter sich eine gewaltige Menge von uns Wassertropfen gespeichert und davon in den trockenen Sommer-monaten ans Feld abgegeben. Und die in ihr und unter ihr nistenden und hausenden Tiere hatten das Feld von unzähligen Schädlingen frei gehalten.

 

Der Bauer spürte bald, sein Feld trug jetzt nicht mehr so reiche Frucht. Er ahnte auch, was daran schuld war. Aber er war ein Dickkopf und wollte es nicht zugeben.

Wir Wassertropfen hatten uns kurz darauf natürlich auch wieder auf die Wanderschaft begeben. Die Sonne hatte uns aufgesogen und wir kamen erst nach sechs Jahren wieder einmal in diese Gegend. Mit einem tüchtigen Gewitterguss platschten wir auf das Feld nieder und hätten es wahrhaftig kaum wiedererkannt. Pulvertrocken war die ganze Flur und stiebte geradezu unter unserem Aufprall. In den benachbarten Straßengräben lagen hohe Schichten der guten Muttererde, die von unseren Kameraden während vorhergegangener Regengüsse vom Acker geschwemmt wurden. Und auch wir liefen von dem Feld wie von einem gestampften Scheunenboden sofort ab und rissen ebenfalls Teilchen um Teilchen und Krümchen um Krümchen der letzten guten Ackererde mit uns. Und von einem benachbarten Tümpel, in dem wir landeten, konnten wir bereits nach zwei Tagen sehen, wie der Wind die inzwischen schon wieder ausgedörrte Krume in hohen Staubwolken über das Land blies.

Den Bauern überfiel das kalte Grausen. Verstört lief er über sein Feld und verwünschte laut den Tag, da er die Feldhecke niederbrannte. Und er ging hin und pflanzte wieder Heckenrosen und Haselsträucher, Weißdornbüsche und Schlehen, Holunder und Pfaffenhütchen an den Feldrain. Er pflanzte sie an die gleiche Stelle, wo die alte Feldhecke gestanden hatte. Und er schrieb es auf für alle seine Nachkommen: »Lasst die Hecken stehen, sie sind die sorgenden Mütter der Felder!«

Hans-Wilhelm Smolik: Wasser, Wind und Wolken.
Mit freundlicher Genehmigung von Sabine Smolik-Pfeifer