Karl May
Am Jenseits
Gibt es Menschen, die auch ins Jenseits blicken und dann davon berichten können? Neben dem Abenteuerlichen nimmt auch Übersinnliches einen bedeutenden Raum ein in dieser Erzählung Karl Mays, die sich mehr für die nicht ganz so jungen Leser eignet.
Die Handlung spielt in und um Mekka. Kara Ben Nemsi (alias Old Shatterhand) rettet in der Wüste den blinden Münedschi vor dem Tode. Der Münedschi hat die Gabe des Hellhörens und Hellsehens, gibt kund, was der Jenseitige El Nûr berichtet über die „Brücke des Todes“, den „Ort der Sichtung“ und die „Waage der Gerechtigkeit“.
Ausführlich beschrieben wird, was die Seelen nach dem Tod und Verlassen ihrer Erdenkörper am „Ort der Sichtung“ erwartet. Dort sieht der Leser die Ankunft der „Frommen“, „Guten“, „Gerechten“, „Liebenden“, „Klugen“, „Reinen“, d.h. die sich dafür halten. Dieses Kapitel kann jedem Leser auch zur Selbsteinschätzung dienen: Was ist bei mir Schein und was echtes Sein?
Da der Ich-Erzähler für diese Kundgebung aus dem Jenseits eine Erklärung sucht, fällt ihm ein einstiges Gespräch mit seinem Blutsfreund Winnetou ein:
Winnetou, der nüchternste, der hell- und scharfdenkendste aller roten Männer, war gewiss kein Phantast, aber … fiel mir ein Abend ein, an welchem wir ganz allein hoch oben in der Einsamkeit des Flintpasses saßen, ernste Gedanken austauschend, und dabei auch das Übersinnliche berührend. Ich hatte das Gebet erwähnt; da sagte er:
»Du wirst dich wohl schon oft gewundert haben, dass ich in Gefahren etwas ganz Unerwartetes tat, was keinen Grund zu haben schien und uns doch errettete. Du schriebst es meiner Klugheit zu, aber ich handelte nur nach dem Willen derer, die du Schutzengel nennst. Vielleicht kommt die Zeit, dass ich dir mehr über sie sage. Jetzt muss ich selbst noch lernen und erfahren, denn es ist nicht leicht, sie zu verstehen, und sehr oft irre ich mich noch. Es könnte jeder Mensch empfinden, was der große Manitu ihm durch die Engel sagt, wenn er mehr auf sich und ihre Stimme achtete und sich befleißigte, sie nicht dadurch zu betrüben und von sich fortzustoßen, dass er Böses tut.«
Karl May beabsichtigte, als Fortsetzung zu „Am Jenseits“ noch den Band „Im Jenseits“ folgen zu lassen, aber er kam in seinem Erdenleben nicht mehr dazu. Doch hinterließ er (siehe unten) eine Jenseits-Beschreibung, die vielleicht der Tatsächlichkeit entspricht.
GK
Zu einem weiteren Buch von Karl May: „Lichte Höhen“
Zur Auswahl Jugend- und Erwachsenen-Bücher
Der Münedschi [Seher, Hellseher] hat regelmäßig Visionen, bei denen er mit der Stimme des jenseitigen Geistes Ben Nûr spricht und einen Blick ins Jenseits machen kann.
Im Kapitel „Die Waage der Gerechtigkeit“, wird der Ort der Sichtung beschrieben, wo die aus dem Erdenleben ins Jenseits hinübergegangen Seelen „gewogen“ werden.
Es folgt Karl Mays Originaltext:
Der Münedschi berichtete:
»Es versammelt sich soeben eine große, große Menge von Leuten, welche fromm die Hände falten und still ergeben ihre Köpfe senken. Ihre Lippen bewegen sich im Gebete. Ihnen vorangetragen wird eine Standarte, auf welcher das Wort „Dijanet“ (** Frömmigkeit, Gottesfurcht) zu lesen ist. Das sind gute Menschen, welche gewiss glücklich über die Brücke hinüberkommen!«
»Du irrst. Du lässest dich von ihrer zur Schau getragenen Frömmigkeit ebenso täuschen, wie die Genossen ihres Erdenlebens von ihnen betrogen worden sind. Das sind die Gewohnheitsbesucher der Kirchen und Moscheen. Sie versäumten keinen Gottesdienst und saßen da auf ihren mit Geld bezahlten, wohlnummerierten Plätzen, auf welche sich ja kein anderer setzen durfte, wenn er nicht zu seiner öffentlichen Beschämung von ihnen hinweggestoßen werden wollte. Sie gingen zur bestimmten Zeit und in dem dazu bestimmten Rocke nach dem Gotteshause, gesenkten Blickes, wie auch jetzt, und die Fatha oder das Gesangbuch von den Händen innig umschlungen. Dabei aber blickten sie verstohlen nach rechts und links, ob man sie denn auch gehen sehe. Sie sprachen ihre Gebete oder sangen die vorgeschriebenen Lieder; sie hörten die Worte des Predigers, und wurde ihnen das zu langweilig, so ließen sie sich andachtsvoll in das süße Schläfchen des Bewusstseins fallen, dass sie das alles wohl schon tausendmal gehört hätten und es also ebenso gut wüßten, wie der Mann dort auf der Kanzel. Dann gingen sie erhobenen Hauptes heim, denn sie hatten jetzt für diese Woche ihre Pflicht gethan und dadurch Gott gezwungen, ihnen nun auch eine Woche lang dafür dankbar zu sein. Sie forderten von diesem Gotte, dass die Nummer des Platzes, den sie für sich gelöst und nur höchst selten leer gelassen hatten, in das Buch des Lebens eingetragen werde, weil nur ihnen, und ja keinem andern, das wohl erworbene Recht zustehe, auf ganz derselben Nummer der Seligkeit auch im Himmel zu sitzen. Dieser Himmel aber ist unnummeriert und hat also nicht den auf der Erde bezahlten Platz für sie; sie werden alle, alle von der Brücke in den Abgrund stürzen. Weiter!«
»Ich sehe freundliche Menschen sich um ein Banner scharen, welches das Wort „Kerem“ (* Güte) trägt. Auf ihren Gesichtern glänzt das Lächeln der Sanftmut, der Milde, der Güte, der Weichherzigkeit. Sie sind in Liebe vereint; sie drücken sich die Hände und scheinen so froh darüber zu sein, dass sie sich hier zusammengefunden haben. Die leitet ein Engel hinüber, ganz gewiß!«
»Nein! Das sind die sogenannten „guten Menschen“, die Sanften, die Angenehmen, die stets Friedlichen, die Wohlthäter, die Barmherzigen, die wegen ihrer Menschenfreundlichkeit so oft und viel Gepriesenen. Du nennst ihr Lächeln sanft und mild; aber die Waage dort wird es als Selbstgefälligkeit bezeichnen. Diese edlen Menschen waren nur freundlich, um gerühmt zu werden. Ihre Nächstenliebe, ihre Sanftmut besaß einen verborgenen Skorpionenstachel. Es war ihnen eine Lust, bei dem freundlichsten Gesichte und während der gütigsten Rede ein tief und schwer verletzendes Wort in die Seele ihres Nächsten zu bohren und dadurch sein Leben zu vergiften. Sie wussten, dass der Glanz ihrer Wohlthaten auf sie selbst zurückfallen werde; sie erwiesen sie also nicht andern, sondern sich selbst. Ihre stete, rücksichtsvolle Höflichkeit war nur Schein, war berechnet, denn sie wußten, dass man einer solchen Liebenswürdigkeit nicht leicht einen Wunsch abschlagen könne. Diese stets nach außen strahlende Huld und Leutseligkeit war innerlich ein Vampir, welcher die von dieser Huld Getäuschten möglichst auszusaugen wußte. Siehst du, wie ihre Schar sich mehr und mehr vergrößert? Wundere dich ja nicht darüber, denn zu ihnen gehören alle jene guten Freunde und Freundinnen, deren gleißende Anhänglichkeit nichts als Selbstsucht war. Sie benutzten dich selbst und deinen Einfluß, deine Güter; sie forschten mit Begierde nach allen deinen Schwächen und Fehlern, um sie sich dienstbar zu machen oder sie mit ihresgleichen zu belachen. Sie nisten sich bei dir ein wie Flöhe der Wüste
* (Sarcopsylla penetrans), deren Stich erst ein wohlthuendes Jucken, dann aber schmerzende und gefährliche Geschwüre erzeugt. Sie freuten sich lauter als du, wenn du dich freutest, barsten dabei aber heimlich fast vor Neid; sie nahmen scheinbar tief betrübt an deiner Trauer teil, fühlten sich aber im Herzen glücklich darüber. Sie gaben dir in inniger Teilnahme und scheinbar gut meinend, einen schlechten Rat, und kamst du durch die Befolgung desselben zu Schaden, so wussten sie die Schuld auf dich zu schieben und höhnten dich innerlich aus. Schau jetzt hinüber zu ihnen! Ja, sie drücken sich innig die Hände, und ihre Gesichter glänzen in Freundschaftswonne; aber dabei denkt ein jeder in seinem Innern, dass er hinüberkomme, die andern aber nicht. Denen, welche unter dem Zeichen „Kerem“ stehen, ist der Himmel verschlossen! Sprich weiter!«
»Es naht eine unabsehbare Menge, welcher ein Panier mit dem Worte „Hakk“ * (* Das Recht) vorangetragen wird. In ihr scheinen alle Stände vertreten zu sein, denn ich sehe unter ihnen Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Gelehrt und Ungelehrt, Fürsten, Beamte, Krieger, Kaufleute, Bauern, Handwerker und sogar auch Bettler. Sie kommen getrost und wohlgemut heran, mit festen, sicheren Schritten und unbeirrten Blicken. Die Gewissheit, dass sie die Brücke in kräftigem Marsche überschreiten werden, ist ihnen allen anzusehen.«
»Warte, bis sie an die Waage kommen, wie sie da so ganz anders blicken und angstvoll weiterschleichen werden,« sagte die Stimme Ben Nurs. »Sie folgen dem Banner ihrer vermeintlichen Rechte; aber sie meinen damit nicht die Menschenrechte, die ihnen von Gott für die Erde verliehen waren, sondern die von ihnen selbst erfundenen. Sie sind nicht das, wofür sie sich ausgeben, sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich Aufrührer und Empörer. Mit diesem Worte Aufruhr meine ich nicht die Verschwörung gegen irdische Herrscherthrone, sondern die Auflehnung gegen göttliche und von Gott geheiligte menschliche Gesetze. Es geht über die Erde eine ununterbrochene Revolution gegen diese Gebote, hier in still wühlender Verborgenheit, da in sichtbarer, immer weiter greifender Gärung und dort in offener, gewaltthätiger Angriffsweise. Die Menschen haben verlernt, zu gehorchen; sie wollen alle befehlen. Der Reiche verlangt von Goldes Gnaden und der Bettler auf Befehl der Mildthätigkeit Gehorsam. Der Arbeitgeber stützt sich auf das Recht seines Unternehmungsgeistes, seines kaufmännischen Talentes, und der Arbeiter auf den Wert seiner Geschicktheit und seiner Fäuste. Die Großen der Erde betonen die Vorrechte der Geburt, und die andern heben dagegen ihre persönlichen Errungenschaften hoch empor. Hier dieser fordert in seinem eigenen Interesse Gehorsam für im Laufe von Jahrhunderten bewährte Einrichtungen, und dort jener verlangt aus demselben Grunde, dass man den Anforderungen der Neuzeit folgsam sei. Es werden neue Rechte und neue Pflichten angefertigt, denen man wohlklingende Namen giebt. Da wird von einem Rechte auf Gleichheit in den verschiedensten Beziehungen gesprochen, von einem Rechte des freien Denkens, der Arbeit, des Lohnes, der Verbindung und Verbrüderung. Jeder stellt sich kampfbereit, um grad das Recht, welches er für das seinige hält, zu verteidigen, und erkennt dabei nicht, dass in dieser Verteidigung schon der Angriff gegen andere Rechte liegt. So wirkt einer gegen den andern, und die eigentliche, wirkliche Wahrheit ist doch, dass sie alle unrecht haben. Denn nach Gottes Ratschluss besitzt der Mensch nur ein einziges Recht und nur eine einzige Pflicht, nämlich d a s R e c h t u n d d i e P f l i c h t d e r L i e b e. Wie aber steht es bei euch damit im Erdenleben? Giebt es einen einzigen Menschen, welcher auf dieses Recht der Liebe verzichtet? Und wie viele aber sind es, welche, wie Gott es doch gebietet, ihr ganzes Leben der Pflicht der Liebe weihen? Schau sie an, die da vorüberziehen. Sie alle haben nach Gerechtigkeit geschrieen, aber keine Gerechtigkeit gegeben, weil sie keine Liebe besaßen. Sie haben gesprochen und geschrieben, gestritten und gebrüllt für ihre einander widerstreitenden, einander aufhebenden Rechte; sie haben gehadert gegen die Menschen und gegen Gott, von welchem sie ihm aber s e i n Recht, den Glauben an ihn und die Liebe zu ihm, verweigerten. Und nun kommen sie sogar hier mit derselben Forderung herangeschritten: Sie verlangen die Seligkeit als ihr Recht; sie bringen das große Ausrufungszeichen nach Gottes Gerechtigkeit getragen und ahnen nicht, dass sie dort an der Waage nach der ihrigen gewogen werden. Sie haben sich gegen sein großes Gesetz der Liebe empört, ihm den Gehorsam verweigert, ihm den Glauben versagt, ihn verleugnet und aus ihrem Leben gestrichen, und nun übt er dasselbe Recht wie bisher sie, nämlich sie ebenso nicht zu kennen, wie sie ihn nicht gekannt haben. Sie sind vorüber. Wer kommt jetzt?«
»Ich sehe die schöne Inschrift „Muhabba“ * (* Liebe). Die, welche hinter ihr schreiten, sind sicher für die Seligkeit bestimmt; denn du hast ja soeben Liebe gefordert. Ich unterscheide – – -«
»Schweig! Schweig von ihnen!« unterbrach ihn Ben Nur streng. »Die, welche jetzt an dir vorüberziehen, sind entweder Abgötter oder Götzendiener gewesen, eins von beiden, weiter nichts! Das sind die Väter, die Mütter, welche nur einen einzigen Gegenstand für ihre Liebe, ihren Sohn oder ihre Tochter, kannten. Das sind die Männer, welche ihre Frauen vergötterten, und die Frauen, welche ihre Männer anbeteten. Die Liebe, welche nur auf eine einzige Person gerichtet ist, ist keine Liebe, sondern das häßliche, abstoßende Narrbild derselben. Schau die Mütter, welche als Sklavinnen vor den Füßen ihrer Töchter knieen, und die Gatten, welche sich von den heißgeliebten, angebeteten Füßen in den Staub treten lassen! Der nichtigste Wunsch der vergötterten Lippen setzt sie in Galopp, während sie zur Erfüllung göttlicher Gebote oder für das Wohl ihres Nächsten kaum einen langsamen Schritt übrig haben. Wie sie auf jedes Wörtchen lauschen und sich bei der geringsten Trennung sehnen! Wie sie arbeiten und sich sorgen, sich ganz hingeben, sich aufopfern, bis sie am Charakter vollständig zum Schatten geworden sind! Für den aber, dem sie alles, alles verdanken, was ihnen gegeben worden ist, und dem sie dafür gehören für Zeit und Ewigkeit, für den haben sie keine Handreichung! Und wenn er dann in seinem heiligen Zorne, um diesem Götzendienste ein Ende zu machen, den Gegenstand dieser Narretei aus dem Leben nimmt, welch ein Stöhnen und Jammern ist da zu hören und welche Verzweiflung, die sich selbst Vernichtung wünscht, zu sehen! Wer in dieser Weise einen Menschen höher setzt als Gott, der wird sich dort an der Waage und dann an der Brücke auch nur auf diesen Menschen, nicht aber auf Gott zu verlassen haben; das ist die unerschütterliche Gerechtigkeit, welche den Gegenstand der Sünde zum Mittel der Bestrafung macht! Nun schau hinab auch zu den so heiß angebeteten Idolen. Sie wurden so lange verehrt und bedient, bis ihnen das als ganz selbstverständlich vorkam, und so ließen sie sich in dem Bewußtsein, ganz erstaunliche Vorzüge zu besitzen, weiter bedienen und weiter bewundern. So wurden sie zum Hochmute und zur Selbstüberhebung geführt. Da sie nichts zu tun hatten, als sich lieben und anbeten zu lassen, wurden sie körperlich und geistig träge, und waren je länger desto weniger imstande, ihre irdischen Pflichten zu erfüllen und sich gar noch mit Gedanken über das Jenseits zu befassen. Sie wurden geistig totgeliebt und geistig totgepflegt; ihre Kräfte schwanden immer mehr und mehr, bis von ihnen nichts übrig blieb als nur auch ein Schatten ihrer selbst, der aber immer noch angebetet sein wollte und jetzt in der stolzen Überzeugung hier vorüberschreitet, dass ihm ein Sitz ersten Ranges im Himmel sicher sei. Sie haben aber ihr Gutes schon auf Erden genossen, und Götzenbilder kennt das Jenseits nicht! Weiter!«
Der Blinde fuhr fort:
»Es kommt ein stolzer Zug daher, dem die Inschrift „Hanahhn!“ * (*Demonstrativ: »Wir da!« »Wir sind es!«) hoch und weithin sichtbar vorangetragen wird. Diese Leute gehen stolz, mit majestätischen Schritten und sieghaften Mienen. Über ihre Gesichter breitet sich das Bewusstsein der Würde und Erhabenheit. Auch sie scheinen verschiedenen Ständen anzugehören, und obwohl sie langsam schreiten, sehe ich doch, dass jeder von ihnen bemüht ist, den andern voranzukommen. Das müssen hohe Herren sein, die sicher nicht erwarten, zu leicht befunden zu werden.«
»Ja, sie waren Herrscher auf Erden, Herrscher auf verschiedenen Gebieten, haben sich aber auf dem Wege zur Waage der Gerechtigkeit zusammenfinden müssen. Da sind Fürsten, welche über Länder und Völker regierten, aber nicht einmal sich selbst beherrschen konnten. Da sind allerlei Würdenträger, welche der ihnen von Gott anvertrauten Würde nicht würdig waren. Da sind hohe Gelehrte, Koryphäen der Wissenschaft, welche sich für Erb- und Gerichtsherren der Weisheit hielten und sich gegen die Einsicht sträubten, dass alles irdische Wissen und Erkennen Stückwerk ist und nur der Glaube zur Wahrheit und Vollkommenheit führt. Da sind die Paschas und Sultane des Mammons, welche von ihren protzenden Thronen aus die Unbemittelten knechteten und in Fesseln schlugen, ohne zu ahnen, dass sie selbst die Fesseln der niedrigsten Knechtschaft trugen, die es auf Erden gibt: die aus Goldbarren geschmiedeten Handschellen, die erwürgenden Zugstricke des Geldsackes. Da sind die Genies, welche ihre herrlichen Geistesgaben nur brauchten, um gegen den zu kämpfen, der sie ihnen lieh, auch die Künstler, denen die Mahnung, dass die wahre, echte Kunst himmelan zu streben hat, nur lächerlich war. Da sind die Herren der Feder, der Literatur, die Zeitungsmonarchen, welche unter ihrer sechsten Weltmacht die Macht ihres eigenen Einflusses, die Wirkungskraft nur ihrer Zwecke verstanden. Da sind die Helden der Phrase, die Redner des Volkes, die Sprecher der Parlamente, die ihre Schlagworte wie platzende Bomben, das Göttliche verneinend, zerstörend in die Versammlungen warfen, unbekümmert darum, dass sie dafür dereinst das zermalmende Richterwort treffen werde, von welchem geschrieben steht: „denn das Wort Gottes ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert!“ Sie alle, alle, die ich dir jetzt bezeichnete, haben ihre eigene, zufällige oder angemaßte Macht an die Stelle der Macht der Liebe gesetzt und werden nun dort an der Waage zu ihrem Schrecken erfahren, dass alle diese von ihnen mißbrauchte Gewalt nicht imstande ist, die ewige Gerechtigkeit auch nur um das Tausendstel eines Haares breit zu ihren Gunsten zu neigen. Fahre fort in deinem Berichte!«
»Die jetzt kommen, folgen einem Banner, auf welchem „Schatahra“ *
(* Klugheit) zu lesen ist.«
»Sprich nicht weiter von ihnen; ich sehe sie! Das sind die irdisch Klugen, welche sich hüteten, mit ihrem Glauben offen hervorzutreten; ihr Vorteil verbot ihnen dies. Auch sind die Schamvollen dabei, welche befürchteten, sich lächerlich zu machen. Ich sage dir, es giebt sogar Menschen, welche wohl beten möchten, aber dies nicht fertig bringen, weil sie sich dabei nicht nur vor sich selbst, sondern sogar vor Gott genieren. Sie sahen den Säemann der göttlichen Liebe über die Felder schreiten, und sie sahen, dass die Krähen des Unglaubens hinter ihm den Samen wegfraßen; sie sind unthätig nebenhergegangen; sie ließen ihn ungestört säen, und sie hinderten die Vögel nicht, diese Arbeit der Liebe um den Erfolg zu bringen. Die einen haben sich vor Gott versteckt; die andern sind weder für noch gegen ihn gewesen; nur werden die ersteren ihn jetzt auch nicht sehen, und die letzteren erwartet ganz dieselbe Gleichgültigkeit. Sie mögen sehen, wie sie hinüberkommen. Weiter!«
»Es kommen jetzt weißgekleidete, fleckenlose Gestalten, an deren Spitze ich den Wahlspruch „Nadahfa!“ * (* Reinheit)) lese. Ihr Gang ist sehr vorsichtig, damit ihr Fuß nichts Unsauberes berühre, und ihre Hände sind unausgesetzt bemüht, die Stäubchen zu entfernen, welche ihren Gewändern angeflogen sind.«
»Ja, das sind die Reinen, die Unbefleckten, deren einziges Bestreben war, auch nicht die allergeringste Unsauberkeit an sich sehen zu lassen. Sie gingen in Beziehung auf ihren äußerlich moralischen Lebenswandel auf den Zehenspitzen, um ihre Füße ja nicht zu beschmutzen; sie thaten die lächerlichsten Schritte und Sprünge, um sich die sittlich trockenen Stellen auszusuchen; sie hielten sich stets allein, und setzte sich ja einmal ein anderer neben sie, so rückten sie erschrocken von ihm ab. Sie kamen niemals mit der Polizei, niemals mit einem Paragraphen des Strafgesetzes in Berührung; sie hüteten sich auch vor jeder andern Sünde, die nicht von diesem Gesetz getroffen wird. Schon der Gedanke, dass etwas von ihnen falsch gedeutet werden könne, versetzte sie in Schreck, denn der gute Leumund war ihr allerhöchstes Gut im Leben und im Sterben. So war ihr ganzes Bestreben nur auf ein gutes Aussehen nach außen, auf ihren Ruf bei den Mitmenschen gerichtet; an ihrer innern Reinheit aber arbeiteten sie nicht. So ein Fleckenloser war gewiß keines Diebstahls fähig, aber dem Herrgott hat er den größten Teil seines Lebens abgestohlen! Eines strafbaren Betruges machte er sich niemals schuldig, aber sein Weib hat er um das Lebensglück und seine Kinder um den frohen, schönen Glanz ihrer Jugend gebracht! Ein Mörder, ein Totschläger, ein Unmensch war er nie, aber für seine Wissenschaft konnte er Tausenden von Pferden, Hunden, Katzen und andern armen, tief beklagenswerten Tieren die entsetzlichsten Martern und den qualvollsten Tod bereiten! Ein Hochverrat, eine Majestätsbeleidigung wäre ihm unmöglich gewesen, aber die himmlische Majestät Gottes hat er in seinem Innern unzähligemal geschändet! Meineid und Fahnenflucht verachtete er, aber vom Militär hat er sich lossimuliert! Raub und Erpressung hielt er für die schändlichsten der Thaten, aber Bücher hat er unter anderm Titel und unter vorsichtiger Veränderung der Namen nachgedruckt und seine Arbeiter gezwungen, sich für ihn für geringeren Lohn zu schinden, weil sie nur von ihm abhängig waren! Falschmünzerei oder falsches Gewicht war bei ihm nicht zu finden, aber die Geschäftsgeheimnisse seines Mitbewerbers hat er ausgespürt, und seinen Kunden verkaufte er Wasser in der Milch und das Fleisch verendeter oder krank gewesener Tiere! Bestechung gab es nicht in seinem Amte, doch die Stelle, welche er zu vergeben hatte, bekam der Schützling seines Freundes, aber nicht der ihrer Würdige! So waren diese alle äußerlich rein, aber innerlich voll Schmutz. Nun misst die Waage dort nicht den äußern, sondern den inneren Menschen. Denkst du auch jetzt noch, dass diese Reinen glücklich über die Brücke kommen werden?«
Der Münedschi antwortete:
»Mir ist das Herz zum Brechen schwer! So viele, viele, viele ich bisher gesehen habe, es war kein einziger unter ihnen, den du der Gnade Allahs für wert gehalten hast. Soll denn der Abgrund alle, alle verschlingen? Soll ich mich denn nicht wenigstens über einen, nur einen einzigen freuen, der drüben an das Thor der Seligkeit gelangt?«
»Sie waren der Gnade Gottes nicht würdig, weil sie nicht nach ihr gestrebt haben. Wer auf seine vermeintlichen Verdienste pocht und dafür den verdienten Lohn, aber keine Gnade fordert, der wird auch keine finden. Aber ich bemerke, dass dein Wunsch in Erfüllung geht. Sag mir, was du jetzt siehst!«
»Es kommen zwei Frauen, ganz allein, nebeneinander; die eine ist sehr schön, die andere sehr einfach gekleidet. Dann eine Strecke hinter ihnen folgt eine unabsehbare Schar von Männern und Frauen, denen aber kein Panier vorangetragen wird. Es sind auch viele, viele Kinder dabei. Und nun flammt es plötzlich dort drüben über dem Thore der Seligkeit helleuchtend auf, so dass hier bei uns die bisherige Düsterkeit wie ein heller, schöner Tag erscheint. Ich sehe, dass die Engel diesem Zuge in freudiger Erwartung entgegenblicken. Sollte er aus Glücklichen bestehen, denen es beschieden ist, den Himmel zu erreichen?«
»Ja; ihnen ist er bestimmt! Du hast gehört, dass du dich hier mitten in der Zeit des Sterbens befindest. Das helle Licht des Jenseits dringt plötzlich zu uns herüber; die Todesstunde derer, die jetzt kommen, ist eine glückverheißende; sie wird von der Morgenröte des ewigen Himmelstages überflutet. Die, welche sich Standarten vorantragen ließen, stellten Forderungen an Gott; sie verlangten hier den himmlischen Lohn für ihre eingebildeten irdischen Vorzüge und Tugenden. Die aber jetzt erscheinen, sind solcher Selbsttäuschung und Ueberhebung fern. In der Erkenntnis ihrer Mangelhaftigkeit nähern sie sich in zagender Demut der Waage der Gerechtigkeit, und den Demütigen giebt Gott Gnade. Für sie ist die ihnen entgegenleuchtende Freude der Engel schon im Sterben der Beginn der Seligkeit.«
»Wer sind die beiden Frauen?« fragte der Blinde.
»Es sind Heldinnen des Herzeleides, des Duldens. Eine Fürstin und eine Arbeiterin, standen sie, die eine auf der höchsten und die andere auf der niedrigsten Stufe des Erdenlebens, einander so fern, dass keine die andere kannte; aber so verschieden die Arten und die Wege des Lebens sind, sie führen alle vor der großen Entscheidung der Todesstunde zusammen. Die Fürstin war ein liebes, heiteres Kind, welches mit frohen Augen in die verheißungsvolle Zukunft blickte; es waren ja alle Vorbedingungen irdischen Glückes vorhanden. Da aber griff die Staatskunst mit eiserner Faust in ihr bisher holdes Geschick. Man entriss sie den liebenden Eltern und Geschwistern und brachte sie, die sich vergeblich Sträubende, in ein fernes Land, zu einem fremden Volke, an die Seite eines Herrschers, dem nie ihr Herz gehören konnte. Ihr goldener Jugendtag war dahin; die Sonne des irdischen Glückes verschwand. Kalte Pflichten begannen, mit furchtbarer Last auf ihr warmes Herz, ihr weiches Gemüt zu drücken; nur schwer fand sie Atem für ihre nach Verständnis und Liebe verlangende Seele. In diesem Gefühl des Erstickens schrie sie zu Gott, und er sandte ihr den Engel des Glaubens als rettenden Boten. Aus den Höhen des Himmels floss ihr die Kraft, den Pflichten der Erde zu leben; darum strebte dieses Leben auch wieder zu ihm empor. Sie legte ihr einstiges Sehnen nach Glück in die Hände der ewigen Liebe und erhielt es als Erhörung für das ihr anvertraute, fremde Volk zurück. Sie teilte, obgleich selbst ungeliebt, diese Liebe aus vom Gletschereise ihrer Höhe herab nach allen Seiten. Für sich auf alles gleißende Erdengut verzichtend, ward sie in schlichter Anspruchslosigkeit eine Spenderin der Güte, die im Verborgenen wirkt. Als Fürstin angefeindet und in frostige Einsamkeit geschoben, war heimlich sie die Barmherzigkeit und Segen spendende Mutter der Bedürftigen. Ein jeder ohne stille Wohltat vollbrachter Tag erschien ihr als verloren. So gingen ihre Jahre hin, und nun sie von der Erde scheidet, umstrahlt kein fürstlicher Pomp ihr einsames, gemiedenes Sterbelager. Nur eine einzige, treue Dienerin kniet unter herzbrechendem Schluchzen dort und betet, betet laut und erschütternd, obgleich ihr bei jedem Worte die Stimme versagen will. Sie allein hat die sterbende Fürstin verstanden und geliebt, sie war die vertraute Zeugin ihrer Leiden, die verschwiegene Botin ihrer Wohltätigkeit. Nur sie weiß es, was die geliebte Herrin ihrem Volke war, nur sie! Doch nein, nicht nur sie! Es gibt außer ihr noch Einen, der alles sieht und kennt, den allwissenden Erforscher der Herzen und Gedanken. In seinem Buche stehen all die zahllosen Bitterkeiten, die sie auf dem schweren Pfade der Entsagung hinabzukämpfen hatte, alle Angriffe, die sie in gottergebenem Verzicht auf Gegenwehr erduldete, aber auch die ganze Fülle der Liebe, welche sie über die Armen und Bedrängten ausgegossen hat, für alle Ewigkeit verzeichnet. Jetzt, im Augenblicke des Abschiedes, klingt das Schluchzen der neben ihr Betenden aus immer weiterer Ferne in ihr Ohr, und so verschwindet vor ihr auch die Zeit des Duldens und des unverschuldeten Leidens. Zu ihren Seiten tauchen die schönen, goldenen Jugendtage wieder auf und vor ihr die in himmlischer Liebe lächelnden Engel, welche ihr dort an der Waage der Gerechtigkeit entgegenwinken. Ich sage dir, der irdische Thron war ihr ein Marterstuhl, wie er es so vielen um ihn Beneideten ist, aber was sind alle diese Qualen gegen die Herrlichkeit jenseits des Thores da drüben, wo aus jedem Augenblicke des einstigen Herzeleides und aus einer jeden einzelnen ihrer Liebesthaten ihr ein unerschöpflicher Bronn der Seligkeit entgegenfließen wird! Vom allwissenden Vater im Himmel wird keine Sekunde des Leides und keine noch so heimlich geweinte Thräne seiner Kinder vergessen!«
Da rief der Münedschi freudig aus:
»Ich sehe, du hast recht! Jetzt sieht sie die Engel winken; sie breitet die Arme nach ihnen aus und beflügelt ihre Schritte. Die andere auch, die mit ihr geht!«
»Diese war eine Tochter der ärmsten Dürftigkeit,« erklärte Ben Nur. »Ihre Kindheit war Hunger, Verachtung und Arbeit. Sie hat nie das Auge einer liebenden Mutter gesehen und vom harten Vater nur die unbarmherzig schlagende Hand gefühlt. Unter fremde Leute geworfen, diente sie treu und ehrlich, doch stets nur bei herzlosen Menschen, und als sie glaubte, ein Herz gefunden zu haben, dem sie sich anvertrauen dürfe, und sich ihm zu eigen gab, da war es ein roher, ein gefühlloser Mann. Er frönte dem Spiel, dem Trunk und anderen Lastern; er hasste die Ordnung, die Arbeit und jede ihn bindende Pflicht. Sie musste schaffen und sorgen für ihn und die zahlreichen Kinder, und tat es still und ergeben, als sei’s ihr nicht anders beschieden. Doch, was sie mit eigener Entbehrung durch rastlose Arbeit errang, das floss bei ihm durch die Gurgel, fiel im Spiele andern zu. Sie sah keine Frucht ihres Fleißes und hielt doch nicht auf, sich zu mühen, denn sie glaubte, es seien die Kinder ein Segen des Himmels, dem sie durch treue, mütterliche Pflege sich würdig zu erweisen habe. Da starb der Mann. Sie begrub ihn; sie weinte an seinem Grabe, sie trauerte um ihn, ohne ihm einen Vorwurf in die Grube nachzusenden. Dann aber schienen sich ihre Kräfte für die Kinder zu verdoppeln. Sie nährte sie besser als vorher; sie schickte sie in die Schule; sie gab sie in die Lehre; sie sorgte für ihr Fortkommen und hatte kein Wort der Klage über die Nächte, in denen sie bei der stillen Lampe saß, um viel, viel mehr zu tun als ihre Pflicht. Die Söhne nahmen sich Frauen, die Töchter Männer; die Mutter arbeitete weiter. Es stellten sich Enkel ein; da gab es noch viel mehr zu sorgen. Was sie da alles that, that sie nicht für sich selbst, doch niemand dankte ihr. Man nahm es nicht nur als selbstverständlich hin, sondern es wurde für noch viel zu wenig gehalten. Kein Kind hatte einen Platz, die Mutter zu sich zu nehmen; ein dürftiger Raum unter dem Dache, ein Tischchen, ein Stuhl und eine ärmliche Lagerstätte, das war das Schaffensfeld unendlicher Muttertreue, die keine Ruhepause kannte und sich selbst vollständig vergaß. Sie wurde auch ver-gessen in der Stadt. Niemand kam zu ihr, auch nicht ihre Kinder und Enkel; diese verlangten, dass sie komme, und zürnten, anstatt zu danken, wenn die zitternden Hände der Greisin nicht mehr soviel brachten wie früher. Nun liegt sie endlich im Sterben; kein Mensch, kein Kind ist bei ihr, um ihr die guten, stets so wachen Augen zur endlichen Ruhe liebend zuzudrücken! Sie lebte jenes Heldentum des Duldens, dem niemand anmerkt, dass es Dulden ist, und wie sie es lebte, so stirbt sie es jetzt. Das Erdenleben versagte ihr jedes Glück, jede Freude, jeden Sonnenstrahl. Erst jetzt, in ihrer Todesstunde, lernt sie den Glanz des Lichtes kennen. Zwar kommt er spät, nun da ihr Auge bricht, aber er ist kein irdischer und wird darum nie wieder von ihr scheiden. Das Diesseits hat sie um den Lohn ihrer Arbeit betrogen; das Jenseits wird ihr diesen Verlust tausendfach ersetzen!«
»Und ihr Mann? Wird sie den dort sehen?« fragte der Blinde.
»Frag nicht nach ihm! Er gehörte zu den Hetzern, zu den Schreiern, welche in Versammlungen mit glühender Begeisterung für ihre Menschenrechte Streiter sammeln, daheim aber ihre Gatten-, ihre Vaterpflichten verleugnen. Er ist nicht über Es Ssiret, die Brücke des Todes, hinübergekommen! Schau lieber auf die dichten Scharen, welche jetzt vorüberwallen!«
»Ja das sind liebe, stille, gottergebene Menschen, denen anzusehen ist, dass sie keine irdischen Ansprüche bei sich tragen, obwohl ich sehr vornehme Personen unter ihnen bemerke. Und der Glanz aus dem Jenseits herüber wird immer heller! Ist er es, den ich wie Glorienschein um ihre Häupter liegen und aufwärts- und hinüberstreben sehe?«
»Nein. Was du im Jenseits leuchten siehst, das ist die ewige Liebe, von welcher jedem Menschen ein Strahl mit auf die Erde gegeben wird. Pflegt er dieses himmlische Feuer, so bleibt es bei ihm, leuchtet ihm durch das Leben und strebt mit ihm in der Todesstunde nach dem Jenseits hinüber, nach seinem Urquell hin. Während der Erdentage brannte es auf den Altären der Herzen als das unverlöschliche heilige Licht des Glaubens; jetzt, wo der Glaube in das Schauen überfließt, fließt auch dieser Strahl dahin zurück, woher er kam, und legt sich als Erkennungszeichen um die Stirnen derer, denen er die Ueberwindung der Brücke und des Abgrundes verbürgt. Wie gerne würde ich dir hier von jedem Einzelnen sagen, warum gerade er diese Aureole trägt! Aber es sind ihrer zu viele, und es ist dir hier an diesem Orte nur eine ganz bestimmte kurze Zeit gegeben, welche fast vorüber ist. Du gehörst ja noch dem Diesseits an; hier aber geht dieses in das Jenseits über; bleibst du zu lange hier, so würde die Auflösung auch dich ergreifen, und das muß ich verhindern. Ich als dein Schutzengel bin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass dein Erdenlauf nicht um einen Augenblick gekürzt werde, denn er ist die Vorbereitung für El Mizan, die Waage der Gerechtigkeit, welche auch du zu überschreiten hast, und jede Sekunde des Diesseits ist von unersetzbarer Kostbarkeit, weil eine einzige genügen kann, eine verlorene Seele dem Himmel zurückzugewinnen! Doch einige darf ich dir noch kurz zeigen. – Ich sehe unter ihnen viele, die gegen die staatlichen Gesetze gesündigt haben und dafür bestraft worden sind. Es ist im Himmel ja mehr Freude über einen Sünder, der Buße thut, als über Neunundneunzig, welche glauben der Buße nicht zu bedürfen, weil sie sich für gerecht halten! Es sind unter ihnen Gefallene aller Art, denen die erbarmende Liebe Kraft verlieh, wieder aufzustehen. Es sind Regenten und Feldherren dabei, die man des Massenmordes der Schlachten anklagte, an dem sie aber unschuldig waren, weil er ihnen aufgezwungen wurde. Ich sehe da berühmte Träger der Wissenschaft, die aber über ihrer Gelehrsamkeit nicht den Glauben und die Liebe vergaßen. Ihr Ruhm wird im Himmel doppelt leuchten! Ich sehe Reiche, welche die Hungrigen speisten, die Durstigen tränkten und die Nackenden kleideten. Sie haben ihren Reichtum auf Erden lassen müssen, sich aber himmlische Schätze gesammelt, welche dort an der Waage bis auf das Gewicht einer Tauperle für sie eingetragen werden! Ich sehe Priester, welche nicht bloß Lehrer des Wortes, sondern Verkündiger und Thäter des Geistes im Worte, wirkliche Prediger der Liebe waren. Ihnen ist es gegeben, das Lob des Herrn erklingen zu lassen in alle Ewigkeit! Ich sehe Gewaltige der Erde, welche gütige Väter, weise Erzieher und freundliche Beglücker ihrer Völker waren. Wahrlich, ich sage dir, im Jenseits werden sie über mehr gesetzt werden, als sie diesseits beherrschten! Ich sehe den Millionär, welcher der Barmherzigkeit sein Vermögen widmete, und den Bettler, der mit dem Straßenhunde sein letztes Stück Brot teilte. Ich sehe die Gründer großer Armen- und Waisenhäuser und den kleinen Knaben, welcher dem dürstenden Vöglein Wasser gab. Ich sehe Fürstinnen und Prinzessinnen, welche, von der Glorie irdischer Erhabenheit umgeben, aus ihrem hohen Kreise heraustraten, um herniederzusteigen und als Huldspenderinnen der Liebe zu walten. Glaube mir, der Herr aller Himmel wird ebenso herabsteigen wie sie und ihnen diese Güte tausendfältig lohnen! Ich sehe edle Frauen, welche sich nicht schämten, die Hütten der Armen, der Kranken, der Witwen und Waisen zu besuchen und den Verachteten zu zeigen, dass auch sie Brüder und Schwestern in der großen, die ganze Menschheit umfassenden Familie des Allvaters seien. Du darfst überzeugt sein, dass sie nun dort an der Waage für würdig befunden werden, zur Familie der Seligen zu gehören! Ich sehe Seelen, deren bloße Anwesenheit die Wirkung hatte, als ob ein warmer, tröstender und beruhigender Sonnenstrahl mit ihnen hereingekommen sei. Es ist ein Himmelsglück, dass es solche Menschen giebt; sie werden im Jenseits noch viel heller strahlen als während ihrer diesseitigen Pilgerzeit! Ich sehe Richter, welche selbst in dem ärgsten Verbrecher noch den Menschen suchten, um so mild wie möglich sein zu dürfen. Betrogene, Bestohlene, Beleidigte, welche nicht nur vergeben, sondern sogar vergessen konnten. Gott wird auch ihnen ein milder Richter sein und ganz so vergeben und vergessen, wie sie es thaten! Ich sehe unter dieser Schar auch Künstler, deren Streben es war, in ihren Werken die wahre Natur, die Uebermacht des Guten und Schönen über das Böse und Häßliche, also die Offenbarung Gottes im Menschen, des Himmlischen im Irdischen nachzuweisen. Sie wühlten nicht wie andere mit Wollust im Schmutze; sie machten nicht unter dem irrigen Vorgeben, wahr sein zu müssen, die Roheit und das Laster zur Staffel ihres Ruhmes, denn sie wußten, dass die Sünde nicht die Wahrheit, sondern ihre abstoßende Verneinung ist. Die Kunst ist nur dann wirkliche Kunst, wenn sie nach dem Edlen auch auf edlem Wege strebt. Wer da glaubt, er könne dem Hohen durch die Darstellung des Niedrigen dienen, der versteht die Aufgabe nicht, die ihm von Gott, dem Urquell des höchsten Könnens und also auch aller Kunst, geworden ist! Ich sehe ferner Freunde, welche wahre, ehrliche Freunde waren. Sie hielten, wenn es nötig war, nicht mit der bitteren, heilsamen Wahrheit zurück, standen aber auch mit ihrem ganzen Haben und Können für die Freundschaft ein! Ich sehe Väter, welche die Schwäche nicht mit der Liebe verwechselten, sondern ihrer Pflicht mit wohlabgewogener Gerechtigkeit walteten, obwohl dies ihrem Herzen oft nicht leicht geworden ist. So ein Vater hat seinen Sohn nicht moralisch totgelobt oder durch nachsichtige Schwachheit selbst zum Schwächling gemacht und seine Tochter nicht zu einem Weibe erzogen, welches für seinen Beruf verloren ist! Und ich sehe Mütter, denen die Kinder nicht als herausgeputzte Gegenstände eitlen Stolzes und überhebender Prahlsucht dienten, sondern denen sie das waren, was sie jeder Mutter sein sollen: Seelenblumen, von Gott dem Elternhause anvertraut, um, von des Vaters Hand begossen und von dem Mutterauge bestrahlt, zum Himmel emporzuwachsen. Sei versichert, dass solche Eltern an solchen Kindern nicht nur im Diesseits Freude erleben, denn bei solcher aufwärts strebender Pflege steigen Vater und Mutter selbst mit himmelan!«