Jewgenia Ginsburg
Gratwanderung
Russischer Originaltitel: Крутой маршрут
Stellen Sie sich bildhaft vor: Sie werden unvermutet verhaftet, verhört, unschuldig verurteilt zu zehn Jahren Straflager ins kälteste Sibirien, wo Sie als politischer Häftling zwischen Kriminellen, bei täglich 100 g Brot, ohne Kontakt zu Familie und Freunden, unter ständiger Beobachtung und schwerster körperlicher Arbeit bei Minusgraden „leben“ sollen.
So ergeht es Jewgenia Ginsburg, die als junge Frau an die kommunistischen Ideale glaubt, daher auch eintritt in die kommunistische Partei, die den Menschen in der Sowjetunion das Paradies auf Erden verpricht. Doch 1937 gerät sie in die Mühlen der von Stalin befohlenen „Säuberungen“, wird völlig zu Unrecht wegen terroristischer und konterrevolutionärer Umtriebe abgeurteilt und nach Sibirien ins Straflager geschickt. Sie erlebt Willkür, Kaltherzigkeit und -schnäuzigkeit durch Geheimpolizei, Richter, Staatsbeamte, Wachpersonal. Erschütternd zu lesen, wie Millionen Menschen in Blindgläubigkeit und Angst, gleichgültig und abgestumpft Millionen andere Menschen leiden lassen.
Doch erlebt Jewgenia Ginsburg inmitten des unmenschlichen Systems auch zutiefst Menschliches. So begegnet sie dem Lagerarzt Dr. Anton Walter, der ebenfalls inhaftiert ist, weil … er Volksdeutscher von der Krim ist, dazu noch Katholik sowie nicht nur Arzt sondern auch Homöopath. Auch unter widrigsten Bedingungen behält Doktor Walter Frohsinn, Gottvertrauen und zeigt Nächstenliebe durch Taten. Einen „fröhlichen Heiligen“ nennt sie ihn, nachdem sie ihn anfangs etwas seltsam findet. Jahre später werden die beiden heiraten.
Es dauert sechzehn Jahre bis Jewgenia Ginsburg entlassen wird und im Flugzeug von Ostsibirien nach Moskau sitzt. Über ihre damaligen Ge-Danken schreibt sie:
„Und wieder wird mir bewusst, dass ich nicht nur ein einfacher, sondern ein hundertfacher Glückpilz bin. Weil ich hier in dieser IL-14* nicht nur mit einigermaßen unversehrten Händen, Füßen, Augen und Ohren sitze, sondern weil auch meine Seele heilgeblieben ist, lieben und verachten, sich entrüsten und sich begeistern kann. Mein Gott! Das ist kein Traum. Du hast mich aus Kolyma** herausgeführt …
* sowjetisches Verkehrsflugzeug **Arbeitslager in arktischer Kälte
Und weiter schreibt sie am Ende ihres Berichtes über das Danken-Können:
Die Gabe der Dankbarkeit ist selten unter den Menschen. Wir ringen die Hände und schreien auf: „Hilf!“, wenn wir in Gefahr sind, umzukommen. Doch ist die Gefahr gebannt, denken wir kaum jemals daran, wem wir unsere Rettung verdanken. Auf meinem Leidensweg habe ich Dutzende, ja Hunderte der beschlagensten Marxisten gesehen, die ihr Leben lang mit dem Brett der Orthodoxie vor dem Kopf herumgelaufen waren, in Augenblicken der Not aber ihre leidverzerrten Gesichter zu dem emporhoben, dessen Existenz sie jahrelang in Vorlesungen und Vorträgen so entschieden geleugnet hatten. Doch die, die sich retten konnten, haben dafür nicht Gott gedankt, sondern bestenfalls Nikita Chruschtschow*. Oder sie haben niemandem gedankt. So ist der Mensch eben.
* Regierungschef, der die Entstalinisierung der Sowjetunion einleitete
In ihrer Rezension „Der Archipel Gulag aus weiblicher Sicht“ nennt Nicole Hoefs* das Buch ein Dokument menschlicher Größe, geschrieben vor dem Hintergrund unvorstellbaren Grauens.
* Amazon-Rezension 4.11.2003
Für die Rezensentin Margarita ist das Besondere die unfassbar genaue Beobachtungsgabe, die Ginsburg sich über die ganze Zeit hinweg behält und die schriftstellerische Brillianz, mit der sie ihr Schicksal und das Schicksal so vieler Weggefährten beschreibt. Margarita hebt hervor, dass obwohl es sich bei dem Buch um eine Autobiographie handele, Ginsburg sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellt.
* Amazon-Rezension 12.3.2011
Heinrich Böll, der Jewgenia Ginsburg persönlich kannte, schreibt im Vorwort zu deren Buch:
Erlebt haben viele, was Jewgenia Semjonowna Ginsburg hier berichtet, erzählen können es nur wenige, schreiben darüber noch weniger …
Spannung, die nicht durch Kitzel, sondern durch Teilnahme entsteht.
Jewgenia Ginsburg ist eine geniale „Erzählerin“, die nichts „erfinden“ muss, eher wohl noch „weggelassen“ hat.
[…] diese erstaunliche Frau den Humor nicht verloren hat, dass er ihr während der Irrfahrten, Transporte, diesen Reisen zwischen einigen Höllen und ein paar hingetupften „Himmeln“ nicht abhanden gekommen ist.
In „Gratwanderung“ erschien mir nicht eine Zeile überflüssig. Ein Nebeneffekt dieses Buches ist, dass ein größeres Verstehen erwächst für die Menschen im gegenwärtigen Russland und den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Vor allem aufgrund seines seelischen Tiefganges ist es ein sehr sehr lesenswertes Buch.
GP
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