Die Wahrheit (Maren Spallek)

Die Wahrheit

sie saß da
auf ihrem bescheidenen platz saß im abseits der masse außen vor

sie war da
unvoreingenommen
mit ihrem blick
unberührt von geschehen und zeit redete nicht
sprach nicht
unabhängig von laut und leise

sie war da und neben ihr all jene die
redeten
fast schrien

einer lauter als der andere
der erste besessener als der zweite über oberflächlichkeiten

unzählbar viele laute stimmen doch im grunde
eine riesengroße stille

und neben dieser lauten menge
eine einzige person schweigend

die die wahrheit spricht…

Maren Spallek

Solche Frauen … (Rilke)

Solche Frauen …

Denn nur im Schlafe schaut man solchen Staat und solche Feste solcher Frauen:

Ihre kleinste Geste ist eine Falte, fallend in Brokat. Sie bauen Stunden auf aus silbernen Gesprächen, und manchmal heben sie die Hände so —, und Du musst meinen, dass sie irgendwo,
wo Du nicht hinreichst, sanfte Rosen brächen, die Du nicht siehst.

Und da träumst Du: Geschmückt sein mit ihnen und anders beglückt sein
und Dir eine Krone verdienen für Deine Stirne, die leer ist …

 

Rainer Maria Rilke

Bild : John E. FitzGerald at English Wikipedia (The Veiled Virgin, Giovanni Strazza)

So in Gedanken beschäftigt (Christiane Döring)

So in Gedanken beschäftigt

So in Gedanken beschäftigt
dass das Frohlocken
der Amsel
in der nahen Birke
verklingt
ohne gehört zu werden.
So in Gedanken beschäftigt
dass der stille Gruß
des Fremden
kaum bemerkt
keine Erwiderung findet.
So in Gedanken beschäftigt
dass das Lächeln
des Kindes entgeht
das auf der Straße eine Murmel fand.
So in Gedanken beschäftigt
dass das stille Leuchten
des Abendrotes
unbeachtet
lautlos verschwindet.

 

Christiane Döring

Der König und die Nachtigall (A. Lamijon)

Der König und die Nachtigall

Seine Hoheit,
der König, durchschritt den Gang,
durch Säulen eilend, auf dem Weg zum Hafen, zum Schiff,
dort weilte sein Heer.
Aus dem Garten rührte Vogelsang,
des Königs Schritte wurden langsamer,
die Getreuen hielten inne,
das Schwert im Griff.

Der König verharrte, als ob ihn etwas ergriff und die Höflinge flüsterten: Was nun?
Die Gefolgschaft hielt den Atem an,
der König schien auf etwas zu warten und dann, die Ratgeber schwiegen,

die Nachtigall sang,
stand der König wie gebannt und
lauschte dem Vogel
und wandt’
sich um zum Hofstaat, ihm zu offenen Ohren, er sah einen nach dem anderen an und
rief: Sagt,
was hat mein Heer in der Fremde verloren?!

 

A. Lamijon