Rainer Maria Rilke
Von den Mädchen und Frauen der Zukunft
Das Mädchen und die Frau, in ihrer neuen, eigenen Enthaltung, werden nur vorübergehend Nachahmer männlicher Unart und Art und Wiederholer männlicher Berufe sein. Nach der Unsicherheit solcher Übergänge wird sich zeigen, dass die Frauen durch die Fülle und den Wechsel jener (oft lächerlichen) Verkleidungen nur gegangen sind, um ihr eigenstes Wesen von den entstellenden Einflüssen des anderen Geschlechts zu reinigen. Eines Tages wird das Mädchen da sein und die Frau, deren Name nicht mehr nur einen Gegensatz zum Männlichen bedeuten wird, sondern etwas für sich, etwas, wobei man keine Ergänzung und Grenze denkt, nur an Leben und Dasein⎼: der weibliche Mensch.
Rainer Maria Rilke
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Dankbar werden
Falls Sie heute Morgen gesund und nicht krank aufgewacht sind, dann sind Sie glücklicher als eine Million Menschen, welche die nächste Woche nicht erleben werden.
Falls Sie nie einen Krieg erlebt haben, nie die Einsamkeit durch Gefangenschaft, den Todeskampf des Gequälten oder Hunger gespürt haben, dann sind Sie glücklicher als 500 Millionen Menschen in dieser Welt.
Falls sich in Ihrem Kühlschrank Essen befindet, Sie angezogen sind, ein Dach über dem Kopf haben, ein Bett zum Schlafen, dann sind Sie reicher als 75 % der Erdbevölkerung.
Falls Sie in die Kirche gehen können ohne die Angst, dass Sie bedroht werden, dass man Sie verhaftet oder umbringt, sind Sie glücklicher als Millionen Menschen weltweit.
Falls Sie ein Konto bei einer Bank haben, etwas Geld im Portemonnaie und etwas Kleingeld in einer Schachtel, gehören Sie zu den 8 % der wohlhabenden Menschen auf dieser Erde.
Falls Sie diese Nachricht lesen, sind Sie doppelt gesegnet worden; denn erstens hat jemand an Sie gedacht und zweitens gehören Sie nicht zu den Millionen Menschen, die nicht lesen können.
Verfasser unbekannt
Was mehr denn je NÖTIG ist
Es ist wohl gerade in unserer aufgeregten Epoche
mehr denn je nötig, den Blick aus den Tagesaffären
emporzuheben
und ihn von der Tageszeitung weg
auf jene ewige Zeitung zu richten,
deren Buchstaben die Sterne sind,
deren Inhalt die Liebe
und deren Verfasser Gott ist.
Christian Morgenstern
Ist es möglich?
IST ES MÖGLICH, dass man Jahrtausende Zeit gehabt
hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und
dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine
Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen
Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und
Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an
der Oberfläche des Lebens geblieben ist?
Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch
immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich
langweiligen Stoff überzogen hat?
Ja, es ist möglich
Rainer Maria Rilke
Die drei Siebe
Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und war voll Aufregung.
„Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund …“
„Halt ein!“ unterbrach ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“
„Drei Siebe?“ fragte der andere voll Verwunderung.
„Ja, guter Freund, drei Siebe! Lass sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“
„Nein, ich hörte es erzählen und …“
„So, so! Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb
geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir er- zählen willst – wenn es schon nicht als wahr erwiesen – so doch wenigstens gut?“
Zögernd sagte der andere: „Nein, das nicht, im Gegen- teil …“
„Hm“, unterbrach ihn der Weise, „so lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt!“
„Notwendig nun gerade nicht …“
„Also“, lächelte der Weise, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit!“
Sokrates