Treffpunkt Weltzeituhr

Isolde Heyne
Treffpunkt Weltzeituhr

Inka ist in Leipzig zu DDR-Zeiten geboren. Als sie zwei Jahre alt ist, lassen ihre Eltern sie bei der Großmutter, wollen in den Westen flüchten und rechnen damit, Oma und Kind bald nachholen zu können. Alles ist gut geplant, doch es kommt ganz anders … Der Vater wird beim versuchten Grenzübertritt erschossen, die Mutter wird wegen „Republikflucht“ zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, die kleine Inka wächst nach dem Tod ihrer Großmutter im Heim auf.

Nach Entlassung aus dem DDR-Zuchthaus darf die Mutter nach Westdeutschland ausreisen. Ihrem  Antrag auf Familienzusammenführung wird stattgegeben und Inka muss ungewollt ihre vertraute Umgebung im Heim sowie ihre Freundinnen verlassen, sie kommt in die Fremde:

Zehn Jahre alt war sie damals gewesen und allein wie niemals zuvor und niemals danach, obwohl am Ende der Straße ihre Mutter auf sie wartete. Aber in diesen Minuten, auf dieser Straße, hatte sie zu niemandem gehört. Von der einen Seite war sie noch nicht aufgenommen und zur anderen Seite gehörte sie schon nicht mehr.
Sie war auf die Frau zugegangen, die da mitten auf der Straße stand und von der man gesagt hatte, das sei ihre Mutter.
© für alle Zitate: 1984 by Arena Verlag

Auch in den nächsten vier Jahren denkt Inka ständig an ihre Freundinnen und alles, was sie in der DDR zurücklassen musste, fühlt sich im Westen nicht zu Hause:

Mir ging es mehr um das, was ich verloren hatte, als um das, was sich mir neu bot.

Vergangenheit und Jetztzeit wechseln sich im Buch ständig ab und machen es dadurch um so packender.

Als ihre Mutter, ein Journalistin, arbeitslos wird, erkennt Inka, dass ihre Mutter sie braucht. Mutter und Tochter finden zusammen. Von Tutty, ihrer beste Freundin, befragt, wo sie lieber leben würde, wenn sie es aussuchen könnte, in der DDR oder im Westen, antwortet Inka:

„… ich glaube, man kann überall leben, wenn man jemand hat, den man mag“, antwortet Inka ihrer besten Freundin.

Das Buch erhielt 1985 den Deutschen Jugendliteraturpreis und hilft dem Leser hautnah das Leid mitzubekommen, das so viele zwischen 1961 und 1989 aufgrund der Mauer und des Todeszauns zwischen Ost- und Westdeutschland erlebten.

R K

Isolde Heyne im Nachwort:

Mit meinen Büchern habe ich mich auf meine Weise gegen die Grenze gewehrt, die aus Stacheldraht und Mauern aufgerichtet worden ist. Jetzt gilt es, auch die Mauern und Zäune in den Gedanken und in den Herzen einzureißen. Dazu muss man wissen, wie das Leben der Menschen … ‚drüben‘ [in der DDR] aussah.

Ferdinand

Munroe Leaf mit Bildern von Robert Lawson
Ferdinand

 

Amerikanischer Originaltitel: The Story of Ferdinand
Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1977, 2013 Diogenes Verlag AG Zürich

 

Stierkind Ferdinand ist anders als seine Gleichaltrigen. Er freut sich an Blumen und der Natur. Rempeln und mit ihren Hörnern stoßen, das ist nichts für ihn.

Was jedoch geschieht, wenn er als ausgewachsener starker Bulle an einem Stierkampf teilnehmen soll? Und dort auf einen eitlen Torero mit Degen sowie dessen Gehilfen, den Banderilleros und Picadores, die den Stier durch Malträtieren reizen sollen?

Auch damit weiß Ferdinand umzugehen.—

Mit ganz wenigen Worten und viel Herz geschrieben. Schön und amüsant illustriert.

RK

Mit einfachen Worten ausgedrückt und dazu passenden Zeichnungen: Man muss nicht alles mitmachen und auch „Nein!“ sagen können. So bleibt Ferdinand glücklich.

GK

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Gratwanderung

Jewgenia Ginsburg
Gratwanderung

Russischer Originaltitel: Крутой маршрут

Stellen Sie sich bildhaft vor: Sie werden unvermutet verhaftet, verhört, unschuldig verurteilt zu zehn Jahren Straflager ins kälteste Sibirien, wo Sie als politischer Häftling zwischen Kriminellen, bei täglich 100 g Brot, ohne Kontakt zu Familie und Freunden, unter ständiger Beobachtung und schwerster körperlicher Arbeit bei Minusgraden „leben“ sollen.

So ergeht es Jewgenia Ginsburg, die als junge Frau an die kommunistischen Ideale glaubt, daher auch eintritt in die kommunistische Partei, die den Menschen in der Sowjetunion das Paradies auf Erden verpricht. Doch 1937 gerät sie in die Mühlen der von Stalin befohlenen „Säuberungen“, wird völlig zu Unrecht wegen terroristischer und konterrevolutionärer Umtriebe abgeurteilt und nach Sibirien ins Straflager geschickt. Sie erlebt Willkür, Kaltherzigkeit und -schnäuzigkeit durch Geheimpolizei, Richter, Staatsbeamte, Wachpersonal. Erschütternd zu lesen, wie Millionen Menschen in Blindgläubigkeit und Angst, gleichgültig und abgestumpft Millionen andere Menschen leiden lassen.

Doch erlebt Jewgenia Ginsburg inmitten des unmenschlichen Systems auch zutiefst Menschliches. So begegnet sie dem Lagerarzt Dr. Anton Walter, der ebenfalls inhaftiert ist, weil … er Volksdeutscher von der Krim ist, dazu noch Katholik sowie nicht nur Arzt sondern auch Homöopath. Auch unter widrigsten Bedingungen behält Doktor Walter Frohsinn, Gottvertrauen und zeigt Nächstenliebe durch Taten. Einen „fröhlichen Heiligen“ nennt sie ihn, nachdem sie ihn anfangs etwas seltsam findet. Jahre später werden die beiden heiraten.

Es dauert sechzehn Jahre bis Jewgenia Ginsburg entlassen wird und im Flugzeug von Ostsibirien nach Moskau sitzt. Über ihre damaligen Ge-Danken schreibt sie:

„Und wieder wird mir bewusst, dass ich nicht nur ein einfacher, sondern ein hundertfacher Glückpilz bin. Weil ich hier in dieser IL-14* nicht nur mit einigermaßen unversehrten Händen, Füßen, Augen und Ohren sitze, sondern weil auch meine Seele heilgeblieben ist, lieben und verachten, sich entrüsten und sich begeistern kann. Mein Gott! Das ist kein Traum. Du hast mich aus Kolyma** herausgeführt …

* sowjetisches Verkehrsflugzeug         **Arbeitslager in arktischer Kälte

Und weiter schreibt sie am Ende ihres Berichtes über das Danken-Können:

Die Gabe der Dankbarkeit ist selten unter den Menschen. Wir ringen die Hände und schreien auf: „Hilf!“, wenn wir in Gefahr sind, umzukommen. Doch ist die Gefahr gebannt, denken wir kaum jemals daran, wem wir unsere Rettung verdanken. Auf meinem Leidensweg habe ich Dutzende, ja Hunderte der beschlagensten Marxisten gesehen, die ihr Leben lang mit dem Brett der Orthodoxie vor dem Kopf herumgelaufen waren, in Augenblicken der Not aber ihre leidverzerrten Gesichter zu dem emporhoben, dessen Existenz sie jahrelang in Vorlesungen und Vorträgen so entschieden geleugnet hatten. Doch die, die sich retten konnten, haben dafür nicht Gott gedankt, sondern bestenfalls Nikita Chruschtschow*. Oder sie haben niemandem gedankt. So ist der Mensch eben.

* Regierungschef, der die Entstalinisierung der Sowjetunion einleitete

In ihrer Rezension „Der Archipel Gulag aus weiblicher Sicht“ nennt Nicole Hoefs* das Buch ein Dokument menschlicher Größe, geschrieben vor dem Hintergrund unvorstellbaren Grauens.
* Amazon-Rezension 4.11.2003

Für die Rezensentin Margarita ist das Besondere die unfassbar genaue Beobachtungsgabe, die Ginsburg sich über die ganze Zeit hinweg behält und die schriftstellerische Brillianz, mit der sie ihr Schicksal und das Schicksal so vieler Weggefährten beschreibt. Margarita hebt hervor, dass obwohl es sich bei dem Buch um eine Autobiographie handele, Ginsburg sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellt.
* Amazon-Rezension 12.3.2011

Heinrich Böll, der Jewgenia Ginsburg persönlich kannte, schreibt im Vorwort zu deren Buch:

Erlebt haben viele, was Jewgenia Semjonowna Ginsburg hier berichtet, erzählen können es nur wenige, schreiben darüber noch weniger …

Spannung, die nicht durch Kitzel, sondern durch Teilnahme entsteht.

Jewgenia Ginsburg ist eine geniale „Erzählerin“, die nichts „erfinden“ muss, eher wohl noch „weggelassen“ hat.

[…] diese erstaunliche Frau den Humor nicht verloren hat, dass er ihr während der Irrfahrten, Transporte, diesen Reisen zwischen einigen Höllen und ein paar hingetupften „Himmeln“ nicht abhanden gekommen ist.

In „Gratwanderung“ erschien mir nicht eine Zeile überflüssig. Ein Nebeneffekt dieses Buches ist, dass ein größeres Verstehen erwächst für die Menschen im gegenwärtigen Russland und den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Vor allem aufgrund seines seelischen Tiefganges ist es ein sehr sehr lesenswertes Buch.

GP

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Der Pianist

Władysław Szpilman
Der Pianist

Mein wunderbares Überleben

 

Polnischer Originaltitel: Śmierć miasta (Tod der Stadt)

Wer den vielfach prämierten Film „Der Pianist“ kennt, wird das Buch noch viel eindringlicher finden.

Władysław Szpilman ist 27 Jahre alt, Komponist und Pianist mit festem Engagement beim Polnischen Rundfunk, bekannt für sein gepflegtes Äußeres. Da er zwei Jahre in Berlin Musik studiert hat, versteht und spricht er gut deutsch. Sein Makel: er sieht nicht „arisch“ aus, ist Jude.

Deshalb beginnt sein Martyrium im September 1939, nachdem beim „Blitzkrieg“ auch Warschau von der Hitler-Armee eingenommen worden ist und Polen kapituliert hat. Seine folgenden sechs Jahre bis zur Befreiung 1945 sieht man beim Lesen vor sich, so sehr anschaulich beschreibt es Szpilmann.

Das Buch wurde erstmals 1946 in Polen gedruckt, doch durfte keine zweite Auflage erscheinen; denn Szpilman berichtet nicht allein von den deutschen Übeltätern, sondern auch von den Untaten jüdischer Getto-Polizisten, von verräterischen Polen sowie sadistischen ukrainischen und litauischen Wachposten. Wozu Unmenschen fähig sind, sobald sie Macht bekommen oder sich auf Kosten anderer bereichern, macht fassungslos.

Dem Pianisten gelingt es, das Warschauer Getto zu überstehen, er kann sich auch vor dem Abtransport in die Vergasungsfabrik retten, doch dann … muss er sommers wie winters in Ruinen „wohnen“, in ausgebombten Häusern immer auf der Suche nach Essbarem, dauernd auf der Hut, nicht von den Besatzern und ihren Helfern entdeckt zu werden.

Das Schicksal bringt es mit sich, dass einer von der Feindesseite ihn vor dem Hunger- und Kältetod rettet: der deutsche Offizier Wilhelm „Wilm“ Hosenfeld. Von ihm gibt es im Anhang des Buches einige Tagebucheinträge, die einen Menschen zeigen, der auch in der Uniform der Besatzer, unter eigener Lebensgefahr, den Bedürftigen Hilfe leistet.

Doch war dieser Mensch eine von zu wenigen Ausnahmeerscheinungen und wer verstehen möchte, warum Polen, Russen, Weißrussen, Ukrainer in den Deutschen kein Kulturvolk mehr sehen konnten, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Horizonterweiternd!

Pu

Schwarz-weiß-Foto: Profilbild von Wim Hosenfeld in weißer Wehrmachts-Uniform
Wilhelm Hosenfeld

Zwei Jahre vor seinem Tod wird Władysław Szpylman bei einem Interview* auch diese Frage gestellt:
„Genügt ein Mensch wie der Wehrmachtsoffizier Hosenfeld, um Hoffnung zu haben?“

Szpylmans Antwort:

Hosenfeld war ein wunderbarer Mann. Juden oder nicht Juden, er hat alle gerettet, auch Priester. Und ich bin sicher, daß solche Männer für jedes Land sehr viel wert sind. Als ich ihn traf, hatte ich keine Kräfte mehr. Da kam er und hat gesagt: „Haben Sie keine Angst.“
Er hat „Sie“ gesagt, nicht „Du“. Die haben uns immer geduzt. Er sprach nicht wie ein Nazi. Schon allein das hat mir geholfen …

* „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ Ausgabe Nr. 10/1998

 

Auszüge aus den Tagebüchern von Wilm Hosenfeld:

Warschau, 13. August 1942
[…] Man muß sich immer wieder fragen: Wie ist das möglich, daß unser Volk ein solches Gesindel beherbergt? Hat man aus den Zuchthäusern oder Irrenanstalten die Verbrecher und Anormalen herausgelassen und verwendet sie hier als Bluthunde?

… Was sind wir für Feiglinge, daß wir, die besser sein wollen, das alles geschehen lassen. Darum werden wir auch mitgestraft werden. Auch unsere unschuldigen Kinder wird es treffen, denn wir machen uns mitschuldig, indem wir die Frevel zulassen.

 

1. September 1942
Warum mußte dieser Krieg überhaupt kommen? Den Menschen sollte einmal vor Augen geführt werden, wohin sie in ihrer Gottlosigkeit kommen. Erst hat der Bolschewismus Millionen umgebracht, um angeblich eine neue Weltordnung herbeizuführen. Der Bolschewismus konnte das nur tun, weil er sich von Gott und den christlichen Lehren abgewandt hat, dann tut der Nationalsozialismus in Deutschland dasselbe.

 

14. Februar 1943
[…] es ist ganz unverständlich, daß wir solche Greueltaten haben begehen können an den wehrlosen Zivilbewohnern, an den Juden. Ich frage mich oft und oft, wie ist das möglich? Eine Erklärung nur gibt es, diese Menschen, die das tun konnten und die das befahlen und geschehen ließen, haben alle Maße der sittlichen Verantwortung verloren, sie sind gottlos durch und durch, krasse Egoisten und tiefstehende Materialisten. Als die schrecklichen Judenmassenmorde, die Hinschlachtung von Kindern und Frauen im vergangenen Sommer geschahen, da wußte ich mit aller Deutlichkeit, jetzt verlieren wir den Krieg.

 

16. Juni 1943
[…] Wir haben eine unaustilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch auf uns geladen. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig.
Ich schäme mich, in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das Recht, vor uns auszuspucken. Täglich werden deutsche Soldaten erschossen. Es wird noch schlimmer kommen, und wir haben kein Recht, uns darüber zu beschweren, wir haben’s nicht anders verdient, jeden Tag wird es mir unheimlicher zumute.

 

6. Juli 1943
[…] Wir sind so gerne geneigt, einem anderen die Schuld zu geben und sie nicht bei uns selbst zu suchen. Gott läßt das Böse geschehen, weil es sich die Menschen selbst zuzuschreiben haben, wenn sie nun die Plage ihrer eigenen Bosheiten und Unvollkommenheiten zu spüren bekommen. Wir haben seinerzeit, als die Nazis zur Macht kamen, nichts getan, um es zu verhindern, wir haben die eigenen Ideale verraten. … Ideale lassen sich nicht ungestraft verraten, jetzt müssen wir alle die Folgen tragen.

 

Weitere Jugend- und Erwachsenen-Bücher

Unsichtbare Wunden

Astrid Frank
Unsichtbare Wunden

… Manchmal wünschte ich, sie würden mich schlagen. Denn wenn man geschlagen wird, gucken die Leute hin! Nur wegen ein paar gemeiner Worte oder böser Blicke greift niemand ein. Wenn sie mich schlagen würden, dann hätte ich sichtbare Wunden! Dann könnte ich sagen: »Schaut her, diesen blauen Fleck hat Manu mir zugefügt! Und diese Beule Nina! Der blutende Kratzer stammt von Chiara, und die Platzwunde an der Lippe, das war Paul …
Aber ich habe keine blauen Flecken, keine blutenden Kratzer, keine Beulen oder Platzwunden. Meine Wunden sind tiefer. Sie sind unter meiner Haut verborgen und damit unsichtbar. Sie sind in meinem Herzen, in meinem Bauch, meinem Kopf und meiner Seele. Sie zerstören mich von innen heraus.
Und niemand bekommt es mit …

  Tagebucheintrag Montag 16.03.2015
Ein Buch, das nicht nur berührt, sondern bewegt und erschüttert, was andere Rezensenten auch so sehen:

„’Unsichtbare Wunden’ ist packend von Anfang bis Ende (…). Gerade für Jugendliche im Pubertätsalter, die vielleicht sogar etwas Ähnliches erleben, zeigt dieses Buch einerseits, wie sich das Opfer fühlt und andererseits, wie leicht es die Täter haben und wie schnell man zum Mittäter werden kann.“ www.ajum.de

„… so mancher ‚Täter‘ könnte die Tragweite seines Handelns vielleicht überdenken. Vielleicht wird auch ein neues Bewusstsein erschaffen, dass nicht jeder Witz und jede Hänselei nur Kleinigkeiten sind“ S.B.

Astrid Franks Buch ist das Ergebnis ihrer persönlichen Erfahrungen als Mutter eines gemobbten Kindes. Unter die Haut gehend beschreibt sie, was alles auf die dreizehnjährige Anna einstürmt. Die ganzen Intrigen durchschaut Anna lange Zeit nicht, weil sie selbst auf solche Gedanken und Gehässigkeiten gar nicht kommt: Neid auf die „Kapitalistensau“, Eifersucht einer „Konkurrentin“ bei den Jungs, Rachegelüste eines „abgeblitzten“ Klassenkameraden.

Es handelt auch von der Gleichgültigkeit der anderen, der Unaufmerksamkeit von Lehrern und Eltern. Alles Tatsachen, die manche Mädchen und Jungen täglich erleiden.

Für ältere Leser ist die Sprache der Jugendlichen untereinander oft schwer verdaulich, doch entspricht sie der heutigen „Norm“.

Das Buch hilft Mitschülern, Eltern, Lehrern ihre Sinne zu schärfen für Sticheleien, „tötende“ Blicke, Schickanen, seelische Verwundungen. Es ist ein Aufruf, rechtzeitig einzuschreiten, um zu helfen.

G K

Zu einem weiteren Buch von Astrid Frank: „Kummer auf vier Pfoten“

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Fass zu, Toyon!

Nicholas Kalashnikoff
Fass zu, Toyon!

Amerikanischer Originaltitel: Toyan, a Dog of the North and his People

„Gut so, Toyon“ wurde es für die niederländische Ausgabe „Goed zo Toyon“ übersetzt, ein Buchtitel, der viel besser zum Inhalt als „Fass zu“ passt; denn der große, starke Hund Toyon kann viel mehr als nur zufassen, zupacken.

Zu Beginn der begeisternden Erzählung begleiten wir einen zwanzigjährigen jungen Mann, der aus politischen Gründen für fünf Jahre nach Nordsibirien verbannt wird. Auf der langen Reise ins Lager darf er für drei Nächte in einer kleinen Siedlung rasten. Dort ist er zu Gast bei Guran und dessen Familie mit deren Hund, der ihn an einen gezähmten Wolf erinnert, dessen Augen von großer Intelligenz zeugen, aber auch von einem Leben voll Leid und Erfahrung sprechen.

Auf Nachfrage des Gastes erzählt Guran die Entwicklung Toyons vom Welpen bis zum legendären Hund und damit verbunden vom Werdegang der ganzen Familie.

Ein Gottesgeschenk sehen Guran und Anna, seine Ehefrau, in dem Welpen Toyon. Und sein „Herrchen“ sagt über den Hund:

Entdecke seine angeborenen Gaben, dann entfalte sie durch das richtige Training.

Wir müssen ihn nur richtig erziehen. Er soll fühlen, dass er unser Freund ist, ein Mitglied der Familie – nicht, dass wir nur seine Herren sind, die ihn füttern und dafür Gehorsam fordern.

Gut beschrieben wird, wie junge Hunde durch Nachahmung von Mutterhunden, älteren Hunden oder Menschen immer mehr lernen.

Jung-Toyon erheitert seine Menschen durch Kapriolen und bald reißt er auch den gutmütigen „Faulpelz“, den älteren behäbigen Hofhund, zum Mehr-sich-Bewegen mit. Von ihm lernt das Jungtier, dass nicht allein Mut, sondern Vorsicht genauso wichtig ist.

Der weitere Lebensweg Toyons zeigt, zu welchen Leistungen Hunde fähig sind, wenn ihre verschiedensten Fähigkeiten durch Erziehung gefördert und durch Aufgaben herausgefordert werden. Während wir heutzutage Hunde oft nur als Gesellschaftstiere kennen, die stundenlang auf ihren nächsten Spaziergang warten müssen, so ist es bei den in Nordsibirien heimischen Tungusen anders; denn diese von Viehzucht und Jagd sich ernährenden Menschen könnten ohne Hunde nicht überleben. Es sind Hunde wie Toyon, die bei der Jagd unerlässlich sind und außerdem die Rentiere, Schafe, Kühe, Pferde und … Kinder hüten. Hunde, die Wölfen sich entgegenstellen und üblen Leuten Einhalt gebieten. Dabei wittern die Hunde nicht nur mit der Nase, sondern durch einen besonderen Sinn.

Feinsinnig beschreibt der Autor, wie Menschen oft Warnungen erhalten: durch ihre Hunde, was oft nicht beachtet wird oder durch Träume oder wie Anna ihre weibliche Intuition ausspricht, auf die ihr Mann nicht immer hören will, was dann dazu führt, dass Guran die bittere Erfahrung machen muss:

Unglück schmerzt, doch öffnet es die Augen.

Als der junge Ziehsohn Dahn im frühen Winter um jeden Preis der Erste sein will, der im Fluss ein Eisloch haut, um Fische zu angeln, gibt ein alter Mann ihm den Rat:

Versuch nicht, die Natur anzutreiben. … Lass das Eis dick und fest werden.

Doch Dahn in seinem Ehrgeiz begibt sich trotz Warnungen von Mensch und Hund aufs dünne Eis, bringt damit sich und den ihn begleitenden Toyon in Lebensgefahr.—

Nicholas Kalashnikoff konnte dieses Buch so wirklichkeitsgetreu schreiben, weil er selbst von seinem 17. bis 21. Lebensjahr nach Sibirien verbannt worden war. Dabei muss der gute Beobachter viele Erfahrungen mit Tieren gesammelt haben; denn er schreibt unter anderem von Hunden, die bei Unwohlsein oder Krankheit sich selber Heilkräuter suchen und diese fressen, eine Tatsache, die auch ich mehrmals bei eigenen Hunden gesehen habe.

Deutlich wird wie Hunde bei drohenden Gefahren auch von der Einstellung der Menschen beeinflusst werden; denn als der Hund
„Blackie sah, dass Dahn nicht aufgeregt war, schöpfte auch er Mut und hielt forschend Ausschau nach den Wölfen.“

Und dass Hunde auch auf Gedankenübertragung reagieren, ist dem Autor zur Gewissheit geworden:

Da es mir nicht länger seltsam erschien mit Hunden Gedanken auszutauschen …

Im Gegensatz zu Märchen oder Erzählungen, in denen Tiere vermenschlicht werden, sind bei Kalashnikoffs Erzählungen hochentwickelte Tiere keine Menschen auf vier Pfoten, sondern Wesen mit Seele, die den Menschen Freund und Helfer sein können. Wobei Guran sogar davon ausgeht, dass der „gute Geist“ von Dahns Großvater durch den Hund „wirkt“.

Als am Ende der Geschichte der junge Mann weiter ziehen muss zum Gefangenenlager, ist er gestärkt durch die Gastfreundschaft der Tungusenfamilie:

Eine Gegend, in der so gütige, einfache Menschen zu finden waren, konnte nicht schlecht sein. Es war ein erwärmender Gedanke angesichts von fünf Jahren in diesem frostigkalten Lande des Nordens. Und wiewohl Toyon mir als mit geheimnisvollen Kräften begabt vorgestellt wurde, besann ich mich darauf, dass er so außergewöhnlich nur jenen war, die ihn liebten. Was er getan hatte, könnten kluge und treue Hunde auf der ganzen Welt tun.

Ab 10 Jahren.

Pu

 

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