Eine Weihnachtsgeschichte / Der Weihnachtsabend

Charles Dickens
Eine Weihnachtsgeschichte
Der Weihnachtsabend
oder Eine Geistergeschichte zum Christfest

 

Originaltitel: A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas

Eine jenseitige Seele erscheint einem Menschen in Fleisch und Blut. So geschieht es in Shakespeares „Hamlet“, worin der Prinz seinen ermordeten Vater sehen und hören kann.

Bei Dickens ist es der geschäftstüchtige, jedoch herzlose Ebenezer Scrooge. Ihm erscheint die Seele seines hinübergegangenen Geschäftspartners Jacob Marley, der wie ein Sträfling in schweren Ketten geht:

»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?«

»Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe«, sprach der Geist. »Ich schmiedete sie Glied für Glied; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf, und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen dir seltsam vor?«

»Mein Geist ging nie über unser Geschäftskontor hinaus – merke wohl auf – im Leben blieb mein Geist immer in den engen Grenzen unserer schachernden Höhle…“

Dann erzählt Marley wie es ihm erging während der sieben Jahre nach seinem Erdentod:

»Die ganze Zeit ohne Frieden, ohne Ruhe und mit den Qualen unaufhörlicher Reue.
Gefangen und gefesselt durch das Nicht-Wissen, dass jeder, wenn er auch in einem noch so kleinen Kreise wirkt, dieses Erdenleben zu kurz finden wird, um alles Nützliche zu tun. Nicht zu wissen, dass Bedauern die missbrauchten Gelegenheiten eines Lebens nicht wiedergutmachen kann. Aber ich wusste es nicht, ach, so war ich!«

»Aber du warst immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«, stotterte Scrooge zitternd, der jetzt anfing, das Schicksal des Geistes auf sich selbst zu beziehen.

»Geschäft!« rief der Geist, seine Hände abermals ringend. »Der Mensch wäre mein Geschäft gewesen! Das allgemeine Wohl wäre mein Geschäft gewesen! Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles das wäre mein Geschäft gewesen!

»Wie es kommt, dass ich in einer dir sichtbaren Gestalt vor dich treten kann, das weiß ich nicht. Viele, viele Tage habe ich unsichtbar neben dir gesessen.«

Das war kein angenehmer Gedanke. Scrooge schauderte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Es ist kein leichter Teil meiner Sühne«, fuhr der Geist fort. »Heute Nacht komme ich zu dir, um dich zu warnen, da du noch die Möglichkeit hast, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit und eine Hoffnung, die du mir zu verdanken hast.«

»Du bist immer mein guter Freund gewesen«, murmelte Scrooge. »Ich danke dir.«

»Drei Geister«, fuhr der Geist fort, »werden zu dir kommen.« Bei diesen Worten wurde Scrooges Angesicht fast so unglücklich wie das des Gespenstes.

»Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du genannt hast, Jacob?« fragte er mit bebender Stimme.

»Ja.«

»Ich – ich möchte lieber nicht«, sagte Scrooge.

»Ohne ihr Kommen«, sagte der Geist, »kannst du nicht hoffen, den Pfad zu vermeiden, dem ich nun folgen muß. Erwarte den ersten morgen früh, wenn die Glocke eins schlägt.«  …  ̶

Auf Scrooge wirkt Marley wie ein „Coach“, in Wirklichkeit ist er dessen jenseitiger geistiger Helfer. Marley will Scrooge helfen, damit dieser noch in diesem Erdenleben erkennen kann, was er ändern muss. Und Marley hat mittlerweile diese Fähigkeit zu helfen, weil er erstens den gleichen Fehler hatte wie Scrooge und zweitens seine Fehler bereut. Sein früheres nur auf das Materielle ausgerichtete und selbstsüchtige Denken sühnt Marley damit, dass er seit sieben Jahren schmerzlich miterlebt, wie sein ehemaliger Geschäftspartner Scrooge beständig weitere Glieder zu einer Kette schmiedet, die ihn auch nach dem Tod an das Irdische binden wird.

Wozu Dickens seinen Lesern verhelfen will, ist eine Erkenntnis, die er Scrooge in der Erzählung so formulieren lässt:

Der Lebensweg eines Menschen deutet auf ein bestimmtes Ziel hin, bei dem er enden muss, wenn er diesen weiter verfolgt…
aber wenn er diesen Weg verlässt, ändert sich auch das Ende.

Die von den drei angekündigten Geistern gezeigten Bilder aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewirken, dass Scrooge nach Ansehen der drei Lebens-„Filme“ am nächsten Morgen sich in der Tat ändert, was seine Zukunft neu gestalten wird.

Dass dieser Wandel innerhalb einer Nacht vor sich geht, ist ungewöhnlich, aber warum nicht?

Pu/SO

Schwarz-weiß Toto von Charles Dickens, Autor der "Weihnachtsgeschichte"

Charles Dickens

DER GEIZ

Dieses Buch ist aktuell, auch in unseren modernen Zeiten, in welchen das „Scrooge“-Verhalten sich etabliert hat durch die Art wie im gesellschaftlichen Zusammenleben interagiert wird. Ein Verhalten, das offensichtlich auch die Beziehung zwischen den Nationen definiert: in erster Linie Eigennutz und Geschäftsungeist.

In der englischen Sprache ist das Wort „Scrooge“ oder die Redewendung „ein Scrooge sein“ geprägt von der Hauptperson dieser Erzählung, Ebenezer Scrooge.

Die Geschichte ereignet sich am Weihnachtsabend und in den frühen Morgenstunden des ersten Weihnachtsfeiertages.  Am „Heiligabend“ wird Scrooge vom Geist seines vor längerem verstorbenen Geschäftspartners Jacob Marley aufgesucht. Nach dessen Erscheinen folgen drei weitere Geister: der Geist der Vergangenheit, der Geist der Gegenwart und der Geist der Zukunft.

DENN IHRE WERKE FOLGEN IHNEN NACH

Es ist eine lange Nacht, in der die Geister, sich abwechselnd, Ebenezer Scrooge auf eine tiefgreifende, nachdenklich stimmende Reise mitnehmen, ihm dabei Bilder zeigen aus seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und den Möglichkeiten für sein zukünftiges Lebens; denn „ihre Werke folgen ihnen nach“, wie der Geist seines Geschäftspartners Jacob Marley ihn vor diesen drei Erscheinungen bereits vorgewarnt hatte.

Es ist eine lange Nacht und eine Angst erregende Nacht. Als endlich der Weihnachtstag anbricht, ist Scrooge tatsächlich ein ganz anderer Mensch.

SIND DIE MISSSTÄNDE VERSCHWUNDEN?

Charles Dickens war ein großartiger Schriftsteller und Sozialkritiker im Viktorianischen Zeitalter. In seiner Erzählung bezieht er sich auf den Geiz und die sich immer mehr steigernde Gier während dieser Epoche, zeigte, was mit einem Menschen geschehen kann, der diese Charakterzüge sich völlig zu eigen macht.

Dickens sah voraus, wie die Marktwirtschaft sich in den folgenden Jahrzehnten entwickeln sollte. Er war ein großartiger Beobachter und Kommentator der Gesellschaft, er gebrauchte seine Feder, um viele dieser Missstände zu verbessern: Arbeitshäuser für die Armen in London, armselige hygienische Bedingungen, Schulverweigerung und Kriminalität unter den Jugendlichen und den Armen, usw.

Sind diese Missstände verschwunden aus der Gesellschaft, in der Dickens vor fast zweihundert Jahren lebte?

DR

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