Edda Singrün-Zorn
Das Vermächtnis des Engels
Diesen Roman widmete die Autorin „all denen, die den Mut haben, gegen den Strom der Menge zu schwimmen.“ Auf poetische Weise verwob sie Lebensweisheiten zu einer anrührenden Geschichte im mittelalterlichen Rahmen:
Libussa wird als behütete Tochter eines Burgherrn geboren. Die feinsinnige alte Amme weissagt einen bedeutsamen Lebensweg des Kindes. Schon früh lässt die Kleine einen ausgeprägten Eigenwillen und Wissensdrang erkennen, so erhält sie als Rüstzeug für ihre künftige Lebensaufgabe neben den üblichen weiblichen Fertigkeiten Unterricht im Lesen und Schreiben sowie Unterweisung in der Heilkunde.
Mit ihrer Freimütigkeit und ihrem unbeugsamen Gerechtigkeitsempfinden sorgt sie in ihrer Umgebung immer wieder für befremdetes Erstaunen, gewinnt aber auch Achtung und innige Zuneigung der Menschen. Sie zeigt, dass Wahrhaftigkeit und Wehrhaftigkeit Hand in Hand gehen.
All ihr Bestreben wurzelt in einem tiefen Glauben, den sie zeitlebens tatkräftig umsetzt zum Segen ihrer Mitmenschen. So vermag sie Enges zu weiten, Verhärtetes zu erweichen, Getrenntes zu verbinden.
Eine spannende Erzählung für jugendliche Leser – und für Erwachsene eine berührende Anregung zur selbstprüfenden Bestandsaufnahme: Wie tief gründen Vertrauen und Zuversicht? Was fehlt noch zu einer mutigen Lebenshaltung? Was alles könnte sich dadurch wandeln?
MW
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Von der gleichen Autorin: „Das Lied der Arve“
Alexander Grin / Willi Fährmann
Das feuerrote Segel (Purpursegel)
Russischer Originaltitel: Алые паруса
Die gutherzige Assol wird wegen ihres Vaters von den anderen Erwachsenen und Kindern ihres Dorfes ausgegrenzt und verhöhnt. Doch dies und auch die armen materiellen Verhältnisse zu Hause hindert sie nicht, eine glückliche Kindheit zu haben.
Parallel dazu wird der Werdegang von Arthur Grey erzählt, aus sehr begütertem Hause, der von Kind an den Wunsch hat, zur See zu fahren und es tatsächlich bereits als junger Mann zum Kapitän und zum eigenen großen Segelschiff mit Bemannung bringt.
Wie diese beiden jungen Menschen zueinander finden, wird berührend und fesselnd erzählt.
Das 1923 erschienene Buch gibt es in fünf deutschen Übersetzungen mit fünf verschiedenen Titeln: „Das Purpursegel“, „Rote Segel“, „Die purpurroten Segel“, „Das feuerrote Segel“ (nacherzählt von Will Fährmann) und „Purpursegel“.
Alexander Grin schreibt ohne Absätze, seine Wortwahl ist ungewöhnlich, gewöhnungsbedürftig, aber … schön. Wer sich auf den eigenartigen Stil einlässt und sich hineinliest, dem wächst Seite um Seite die Freude an dieser Erzählung.
Für die jüngeren Generationen empfehle ich die leichter zu lesende und genau so schön nacherzählte Ausgabe von Willi Fährmann: „Das feuerrote Segel“. Der Inhalt bleibt bezaubernd.
G.K.
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Lew Tolstoi
Auferstehung
Original: Воскресение
Der junge Fürst Nechljudow soll als Geschworener über eine junge Frau urteilen, die er vor Gericht wiedererkennt: Katharina (Katjuschka) Maslowa, die er vor zehn Jahren als junges Mädchen verführt und kurze Zeit später mit Kind sitzen gelassen hat.
Nechljudow wird bewusst, wie sehr er mitverantwortlich dafür ist, dass die junge Frau auf die schiefe Bahn geraten ist und versucht nun alles in Bewegung zu setzen, um das wieder gutzumachen.
Faszinierend wie Tolstoi das Innere der Romangestalten seinen Lesern sichtbar werden und fühlbar lässt: wie die einzelnen denken, warum sie so oder anders handeln.
Das Buch bietet den Leserinnen und Lesern viele, viele Gelegenheiten sich selbst zu erkennen in guten wie schlechten Neigungen der darin beschriebenen Persönlichkeiten.
Ergreifend, wie unverdorbene Jugendliche schlechten Beispielen folgen, wie Fehlentscheidungen schlimme Folgen verursachen, wie jedoch durch die Macht der Liebe und des Geliebtwerdens es manchen gelingt, sich aus dem Sumpf herauszuarbeiten, in den sie sich hineingleiten ließen. Menschen können fallen, aber … auch wieder auferstehen. Von daher der Buchtitel.
Der Leser erlebt, wie die allermeisten Angehörigen aus der reichen Oberschicht (der Tolstoi entstammt) gleichgültig und oberflächlich bleiben für die auf ihren Gütern arbeitenden armen und großenteils abgestumpften Bauern. Daneben begegnet der Leser auch jungen Revolutionären, die das System verändern wollen, darunter gutwollenden Idealisten, aber auch ehrgeizigen, kaltherzigen Politikern.
Tolstoi geht es in seinem Werk unter anderem um ein Verwirklichen der Sätze aus Jesu Bergpredigt. Gleichzeitig stellt er sich gegen die Dogmen kirchlicher Würdenträger, was zur Folge hatte, dass er wegen seiner „Auferstehung“ aus der Kirche ausgeschlossen, exkommuniziert wurde.
GP
Vom gleichen Autor: „Krieg und Frieden“ und „Der Tod des Iwan Iljitsch“
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Lew Tolstoi
Der Tod des Iwan Iljitsch
Russischer Originaltitel: Смерть Ивана Ильича
„Wie, wenn mein ganzes Leben am Ende doch nicht das gewesen ist, was es hätte sein sollen?“
Das fragt sich der 45-jährige erfolgreiche Karriere-Mann, als er auf dem Sterbebett sein äußerlich wohlgeratenes Leben bilanziert.
Wer diese in wenigen Stunden lesbare Erzählung durchlebt, dem wird es nicht die Einstellung zum Tod, sondern die zum Leben ändern. Daher empfehle ich, das Buch bereits in jüngeren Jahren zu lesen. Noch stärker wird dieses Erleben auf ältere Leser wirken; denn mit jedem Tag rückt die eigene Sterbestunde näher.
Eines der zutiefst berührenden Stücke der Weltliteratur.
GP
In meiner Kindheit und Jugend hatte ich große Angst vor dem Tod – dieses Buch gab meinen Gedanken eine neue Richtung.
Lew Tolstoi hilft, wie unter einem Vergrößerungsglas, in der Menschenseele das Ewige zu sehen und vom oberflächlichen Verstandesmäßigen zu trennen.
SI
Tolstoi ist ein Meister im Beschreiben, so zum Beispiel wie Menschen anders reden als sie in Wirklichkeit denken.
Was mir in diesem Buch fehlt: Da ist der Tod das Ende und es gibt keinen Lichtblick, dass es danach in der jenseitigen Welt weitergeht.
RK
Vom gleichen Autor: „Auferstehung“
Vom gleichen Autor: „Krieg und Frieden“
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Thea Beckman
Stadt im Sturm
Elisabeth, eine auffallend schöne Persönlichkeit, und ihre fünfzehnjährige Tochter Lina fliehen 1672 aus Augsburg, um der Folterung und Verbrennung als Hexen zu entgehen. Beide begeben sich auf die lange Reise in die Niederlande, wo es eine vom Kaiser und von deutschen Behörden anerkannte Hexenwaage gibt. Mit der Urkunde, dass Elisabeth keine Hexe sein kann, will sie zurück nach Bayern, aber hat wundgelaufene Füße, sitzt völlig entkräftet am Wegesrand. Da bietet der fünfzehnjährige Hans den beiden mittellosen Frauen für einige Tage Unterkunft im Hause seines Vaters in Utrecht an. Als Truppen des französischen Königs Ludwig XIV und des Bischofs von Münster in die Niederlande eindringen, wird es für die zwei Frauen unmöglich, das Land zu verlassen.
Für Hans weitet sich sein Horizont durch Gespräche mit der gleichaltrigen „Hexe“ Lina und durch die Begegnung mit dem zwanzigjährigen Joris, einer freiheitliebenden Frohnatur. Hans erkennt nach und nach, dass um frei und froh zu werden, es viel mehr braucht als Gebete murmeln und tüchtig arbeiten, um viel Geld zu verdienen.
Eindrucksvoll vermittelt das Buch die schwierigen Situationen während der Besatzung durch Soldaten und Söldner, Hans‘ wachsende Sympathie für Lina und sein Verliebtsein, schließlich die Wirbelsturm-Katastrophe, welche die Niederlande heimsucht.
Beim Kauf des Buches empfehle ich, nicht die kurze Inhaltsbeschreibung zu lesen, welche unnötigerweise etwas vorwegnimmt. Auch sind etliche Begriffe aus dem Niederländischen nicht klar genug für deutsche Muttersprachler verständlich. Insbesondere für Leser, die nichts von der niederländischen Geschichte wissen. Das kann der Verlag bei seiner nächsten Auflage verbessern durch ein voran- oder nachgestelltes Wörter- und Personenverzeichnis mit Erklärungen.
Dennoch liest das Buch sich im Großen und Ganzen gut. Die Leser erleben mit, wie der junge Hans sich immer wieder selbst in Frage stellt und dabei Selbsterkenntnisse gewinnt: dass sein Vater und er als Drucker Geld durch das Herstellen von Schmähschriften verdient haben, die voll von üblen Verdächtigungen, Verleumdungen und Rufuntergrabungen waren.
Auch prüft sich Hans, ob er und sein Vater die beiden gestrandeten Frauen im Haus aufgenommen hätten, wenn Elisabeth nicht eine solch außergewöhnliche Schönheit, sondern ein altes, gebrechliches Frauchen gewesen wäre. Die Antwort beschämt ihn.
Ab 12 Jahre, ein Jugendbuch auch für Erwachsene, mit starken Inhalten, spannend geschrieben.
Pu
Von derselben Autorin „Karen Simonstochter“
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Michael Ende
Momo
Ab 9 Jahren.
Für Erwachsene von höchster Aktualität
“Momo” darf auf keinen Fall fehlen bei den Buchempfehlungen, finde ich. Es ist mein Lieblingsbuch, und ich verschenkte es oft und nicht nur an Kinder. Im Hier und Jetzt sein, zuhören, dem Augenblick Tiefe geben, Freundschaft und Treue schenken…
In unserer schnellen, oberflächlichen, digital befeuerten Zeit ein wichtiges Buch.
In Michael Endes Roman stellt sich die kleine Momo den „grauen Herren“ entgegen, den Zeiträubern. Momo hat nämlich eine Gabe: Sie konnte wunderbar zuhören:
Sie konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
BPH
Gabriele Hoffmann vom Verein Leseleben findet es sehr aufregend, „Momo“ zu lesen unter dem Aspekt: wie digitale Medien uns die Zeit stehlen.
„Momo“ als Buch! Da beim Film vieles untergeht.
VOM ZEIT-SPAREN, OHNE RÜCKSICHT AUF DIE KINDER
In „Momo“ beeinflussen die „Grauen Herren“ die Menschen so raffiniert , dass diese glauben, der Gedanke, Zeit zu sparen, sei ihr eigener gewesen. So reden die „Agenten“ dem Friseur Fusio ein, er solle schneller arbeiten, alles Unnötige weglassen, seinen Wellensittich weggeben, seine Mutter nicht mehr besuchen usw. Nach und nach geraten immer mehr Menschen unter den Einfluss der grauen Männer.
Selbst ihre freien Stunden mussten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich …… Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen bekamen das die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.
An Momo jedoch, einem kleinen Mädchen, prallten die Überredungs- und Verführungsversuche der „Grauen“ vollkommen ab. In ihr sehe ich das Symbol der echten, lebendigen Kindlichkeit! Mit kindlich – nicht mit kindisch (die deutsche Sprache unterscheidet da sehr treffend) – verbinden wir Spontanität, Unbefangenheit, Natürlichkeit, Schlichtheit. Kindliche Menschen – das können auch Erwachsene sein – strahlen Lauterkeit, Herzenswärme und Heiterkeit aus. Kindlichkeit lebt im Jetzt, ist nicht berechnend, hat also somit all die Eigenschaften mit denen keine „Zeit zu sparen“ ist.
Im Gegensatz dazu steht für mich der kalte, berechnende Intellekt, verkörpert in den Grauen Männern. Sie versuchen die Kinder zu vereinnahmen, um sie zu „nützlichen und leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft“ zu machen. Weil die Eltern keine Zeit mehr haben, werden für die Kinder „Depots gebaut“, wo man sie zur Aufbewahrung abgibt.
KINDER BRAUCHEN ZEIT UND ERZIEHUNG BRAUCHT ZEIT
Die „Grauen“ erreichen es, die Erwachsenen davon zu überzeugen, das „Menschenmaterial der Zukunft“ in ihrem Sinne nutzbringend zu erziehen! Nun kann man fragen: Ist dies auch für die Kinder „nutzbringend“? Den wahren Nutzen muss eindeutig das Kind haben! Also nicht Wirtschaft, nicht eine staatliche Ideologie oder kurzfristige gesellschaftliche Anschauungen. Kinder brauchen Zeit, und Erziehung bedeutet auch, sich die Zeit zu nehmen für Zuwendung.
UK
ZUHÖREN, WER KANN DAS NOCH?
Plädoyer für ein vergessenes Talent
Lehrer, die gegen eine dauernde Geräuschkulisse anreden, Nachrichten, die ganz nebenbei mit Tastenklick über das Handy weitergegeben werden, Gespräche, die vor laufendem Fernseher, Radio oder Computer stattfinden, Musikberieselung im Supermarkt, im Restaurant, in sanitären Räumen – Alltag in einer Zeit, in der gesprochen wird, ohne dass man sich der Aufmerksamkeit des Empfängers sicher ist.
Der Begriff »zuhören« im Sinne von »hinhören« bedeutet, sich einer Person oder Sache zu öffnen.
Versuchen Sie einmal einen Tag lang, allen Menschen, die Ihnen etwas sagen wollen, Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Versuchen Sie dabei, möglichst Blickkontakt zu ihnen zu halten. Ungeteilte Aufmerksamkeit: Also, Sie tippen nicht gleichzeitig auf der Tastatur Ihres Computers, Sie legen währenddessen keine Wäsche zusammen, fahren nicht Auto und kauen keinen Kaugummi.
Sie werden staunen, wie sehr sich die Welt für Sie plötzlich verändert!
Das Hören ist dem Menschen angeboren – im Gegensatz zum Sprechen, das erst erlernt und geübt werden muss. Das Zuhören ist nicht angeboren – anders als das Hören – und muss wie das Sprechen erst geübt werden.
Zuhören: Der Verb-Zusatz »zu« gibt die Bewegung in Richtung auf ein Ziel an und macht aus dem Hören ein Zuhören: die innere Ausrichtung, die Hinwendung zu jemandem. Zuhören ist zielgerichtetes Hören.
Zuhören ist blicken in die Seele des anderen. Wir hören, was hinter einem Wort, einem Klang oder einem Laut steht. Sprachbarrieren können so überwunden und Tiere in ihrem Wesen verstanden werden.
»Die Zeit wird nicht nach der Länge, sondern nach der Tiefe gemessen«, formulierte die Schriftstellerin Isolde Kurz. Zuhören ist ein guter Weg, dem Augenblick wieder Tiefe zu geben.
Wunderbar zuhören konnte die kleine Momo, »mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute
sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an …«
Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Blickkontakt – dies sind die drei Grundpfeiler des Zuhörens.
Paare, Freundinnen, Kollegen sollten den Satz »Wir müssen reden« in Zukunft durch »Wir müssen einander
mal zuhören« ersetzen.
Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Blickkontakt.
Versuchen wir es einmal!
BPH
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